Sternenmann

Cassandra und Harpon waren froh, dass sie ihre Mission in Andromeda hatten erfolgreich abschließen können, und befanden sich auf dem Rückflug zur Milchstrasse. Normalerweise wurden die Leeräume zwischen den Galaxien an einem Stück durchflogen. Solche Flüge verliefen meistens ereignislos, aber ein spontanes Gefühl hatte Cassandra veranlasst, Harpon zu bitten den Flug zu unterbrechen. Nachdem der Antrieb gestoppt worden war, fiel das Raumschiff Nepokadnezar auf Unterlicht zurück und zu Harpons großer Überraschung sprach fast augenblicklich die Ortung an. Der Monitor zeigte eine metallische Skulptur von humanoider Gestalt, die mit geringer Geschwindigkeit in Richtung Milchstrasse driftete.
Sie nahmen sie an Bord und untersuchten sie.
„Zusammensetzung: Eisen, Nickel, Kobalt. Spuren von Silber und Gold. Keine Energieemissionen. Keine inneren Strukturen erkennbar. Ein Stück Metall ohne Funktion. Es ist nur eine Skulptur“, las Harpon vom Monitor ab. „Dann ist es also ungefährlich, den Frachtraum zu betreten“, meinte Cassandra.
„Ja, sicher. Warum fragt du?“
„Ich will mir unseren Gast von den Sternen aus der Nähe ansehen.“

Cassandra trat durch die Schleuse und blieb abrupt stehen.
„Was ist?“, fragte Harpon.
„Nichts. Ich fühle rein gar nichts.“
„Was solltest du auch fühlen? Es ist ein Stück Metall, 1,90 Meter groß und 280 kg schwer.“
Cassandra trat an den Tisch heran, auf dem die Skulptur lag.
„Aber woher stammt es? Wie kommt es in den Leerraum?“
Sie musterte die Skulptur. Es war ein schlanker, athletischer Mensch, der keine geschlechtspezifischen Merkmale aufwies. Cassandra berührte eine Hand der Skulptur.
„Merkwürdig.“
„Was?“
„Es ist warm. Eigentlich müsste es eiskalt sein.“
Harpon richtete einen Scanner auf die Skulptur.
„35 Grad Celsius. Das ist wirklich eigenartig. Ohne innere Energiequelle kann es sich nicht auf diese Temperatur erwärmt haben.“
Cassandra betrachtete das Gesicht der Skulptur. Der Schädel war haarlos, die Augen geschlossen. Die Gesichtszüge waren edel, von einer anziehenden Schönheit.
„Wie lange mag diese Skulptur wohl dort draußen gewesen sein?“
„Der Scanner kann das Alter nicht feststellen.“
Cassandra schrie überrascht auf.
„Was ist?“, fragte Harpon erschrocken.
„Er hat sich bewegt.“
„Was?“
„Sieh dir seine rechte Hand an. Der Zeigefinger war noch nicht ausgestreckt, als wir den Raum betreten haben.“
„Warum sagst du ‚er’?“
„Kannst du dir vorstellen, dass es eine Frau darstellen soll?“
„Nein. Du hat Recht.“
„Harpon! Er bewegt sich schon wieder!“
„Geh zurück. Womöglich ist es gefährlich.“
„Ich will ihn beobachten.“
Harpon rief vier Kampfroboter in den Frachtraum, die er in einigen Metern Abstand um die Skulptur aufstellen ließ.
„Er scheint auf etwas zu deuten.“
Langsam streckte die Skulptur den rechten Arm aus.
„Dein Sternenstein. Er zeigt auf den Stein.“
Unendlich langsam bewegte sich der rechte Arm, bis der Zeigefinger kurz vor Cassandras Brust verharrte, dort wo sich ihr Sternenstein unter ihrer Kleidung befand.
„Was will er von deinem Sternenstein?“
Cassandra nahm den kleinen Stoffbeutel von ihrem Hals und ließ den Sternestein in ihre linke Hand gleiten.
„Was tust du da, Cassandra?“
„Ich will wissen, warum er auf den Stein deutet.“
Sie näherte sich mit dem Sternenstein dem ausgestreckten Zeigefinger der Skulptur, bis er nur noch einen Zentimeter davon entfernt war.
„Es scheint fast so als…“
Plötzlich senkte die Skulptur ihren rechten Arm, so dass der Finger die Oberfläche des Steines berührte. Es gab einen grellen Lichtblitz und Harpon und Cassandra wurden zurückgeschleudert.

Noch etwas benommen rappelte sich Harpon wieder hoch. Seine erste Sorge galt Cassandra, die neben ihm reglos am Boden lag. Harpon hielt ihren Kopf hoch.
„Cassandra! Cassandra!“
Er fühlte ihren Puls. Sie lebte noch. In diesem Augenblick seufzte sie und schlug die Augen auf.
„Ist alles in Ordnung mit dir?“
„Ja, aber ich glaube, ich habe mir den Kopf angeschlagen“, sagte sie mit schmerzverzerrtem Gesicht. Dann sah sie nach ihrem Sternenstein, die sie noch immer in der linken Hand hielt.
„Oh nein. Er hat kaum noch Energie in sich.“
Das Leuchten des Steines war fast erloschen. Dann blickte sie zum Tisch mit der Skulptur hinüber. Erstaunen zeigte sich auf ihrem Gesicht und sie griff nach Harpons Arm. Er drehte sich um und folgte ihrem Blick.
Der fremde Mann hatte sich aufgesetzt und sah zu ihnen herüber.

Sie standen auf und gingen langsam zum Tisch zurück. Die Oberfläche der Skulptur hatte sich verändert. Ein schwaches Leuchten ging von ihr aus. Die Augen waren geöffnet und folgten ihren Bewegungen. In ihnen sah Cassandra das Leuchten der Sterne.
„Ob wir mit ihm kommunizieren können?“, fragte Cassandra.
„Bitte sei vorsichtig. Wir wissen nicht, ob er friedfertig ist.“
Cassandra ließ sich nicht beirren und trat näher heran. Sie legte die Hand auf ihre Brust und sagte: „Cassandra.“
Der Mann sah sie an. Seine Gesichtszüge blieben nach wie vor unverändert. Dann legte er eine Hand an die Brust und sagte: „Carfesh.“

„Kannst du uns verstehen, Carfesh?“
Er zeigte keine Reaktion.
„Ich werde eine mobile Wartungseinheit rufen, die einen Translator bringen soll“, sagte Harpon.
Er ging nun ebenfalls näher heran, wartete, bis Carfesh in ansah und stellte sich dann vor.
„Aber wenn Carfesh nicht spricht, wie soll dann der Translator arbeiten?“
„Wir müssen es eben versuchen.“
Harpon machte eine Geste, die das Schiff umschließen sollte.
„Dies ist das Raumschiff Nepokadnezar.“
In diesem Augenblick fuhr das Schott auf. Harpon ging der Wartungseinheit entgegen und nahm ihr den Translator ab. Er hängte sich das kleine Gerät um den Hals und aktivierte es. Dann trat er wieder neben Cassandra.
„Wie können wir jetzt vorgehen?“, fragte Cassandra.
„Bemüht euch nicht“, sprach der Mann von den Sternen mit leiser Stimme. „Ich habe eure Sprache nun soweit analysiert, dass ich mich mit euch verständigen kann.“

„Ich danke dir, Cassandra, dass du mir die Energie gegeben hast, von der ich mich ernähre.“
„Du ernährst dich vom Licht der Sterne?“
„Ich ernähre mich von der Energie, die sie abstrahlen. Das Licht ist nur ein Teil davon.“
„Aber was tust du im Leerraum zwischen den Galaxien?“
„Ich war auf einer Reise zu der Ansammlung von Sternen, die in jener Richtung liegt.“ Er wies in eine bestimmte Richtung.
„Du meinst die Milchstrasse.“
„Wenn ihr sie so nennt.“
„Was willst du dort?“
„Ich suche Leben.“

„Ich reise schon immer durch die Weiten des Weltalls auf der Suche nach Leben. Jetzt habe ich es endlich gefunden. Woher kommt ihr?“
„Wir kommen aus der Milchstrasse.“
„Und ihr braucht dieses Stück Technologie, um zwischen den Sternen reisen zu können?“ Er machte eine Geste, die die Nepokadnezar umschloss.
„Ja. Ohne die Umgebungsbedingungen, die in diesem Raum herrschen, können wir nicht überleben.“
„Dann seid ihr also organisches Leben?“
„Ja, wir sind organisch.“
„Darf ich dich berühren, Cassandra?“
„Ja.“ Sie streckte ihm eine Hand entgegen.
Vorsichtig, als könnte sie zerbrechen, berührte er sie und betrachtete sie von allen Seiten.
„Lebende Zellen. Ein Blutkreislauf. Stoffwechsel. Es hat also diesmal funktioniert.“
„Was hat funktioniert, Carfesh?“
„Es ist entstanden. Leben ist entstanden.“

„Wie lange bist du schon unterwegs, Carfesh?“
„Es gab keinen Anfang. Deswegen kann ich diese Frage nicht beantworten.“
„Dieses Universum ist etwa sechs Milliarden Jahre alt. Also muss es doch einen Anfang geben.“
„Nein. Ich habe schon immer beobachtet. Ich habe auch dieses beobachtet. Ich habe seinen Anfang gesehen, und gewartet. Ich habe beobachtet, wie es sich ausgedehnt hat. Die Materie hat sich an einigen Stellen konzentriert und Strukturen wie die Milchstrasse sind entstanden. Nachdem dies geschehen war, bin ich in dieses Universum eingetaucht und habe mich auf die Suche nach dem Leben gemacht. Und jetzt habe ich es gefunden.“
„Du hast den Anfang gesehen?“, fragte Harpon.
„Ja. Das sagte ich doch.“
„Und was wirst du jetzt tun?“, wollte Cassandra wissen.
„Ich werde weiterhin beobachten. Ich möchte alle Formen dieses Lebens kennen lernen. Es muss mehr davon geben. Wenn ihr organisch seid, muss es auch Leben geben, das eure Existenz ermöglicht.“
„Wir haben umfangreiche Daten an Bord. Möchtest du sie einsehen?“, fragte Harpon.
„Nein. Ich möchte das Leben mit eigenen Augen sehen.“
„Dann sei unser Gast.“

© 2008 Hermann Weigl