Das Erbe der Mondgöttin

Der Weg zwischen den Sternen 6




Aber ein unbestimmtes Gefühl zog mich weg vom viel bereisten Wanderweg – hin zum Waldrand. Dort angelangt blieb ich stehen, suchte nach einem Durchgang im Dickicht, und fand eine kaum sichtbare Lücke.
Hier begann ein schmaler Pfad, den wohl die Tiere des Forstes getreten hatten. Wir folgten seinem sich windenden Verlauf, der immer weiter vom See weg in die Tiefen des Chelari-Waldes hineinführte. Die Äste der Bäume über uns luden weit aus, und filterten mit ihren Blättern das Sonnenlicht. Die Schatten vertieften sich, Laub raschelte unter unseren Schritten, und kleine Tiere huschten im Unterholz davon.
Irgendwann wich das Dickicht zurück, und der Pfad erweiterte sich zu einer freien Fläche, die von ockerarbenem altem Laubwerk bedeckt war.
Ich blieb stehen, nahm die Ruhe dieses Ortes auf, und spürte, wie mich eine tiefe Verzauberung überkam.
Es roch nach altem Laub und gesunder Erde. Ich hörte die Stimmen der Waldbewohner und das Rauschen der Blätter im Abendwind.
Inmitten dieser freien Fläche strebte der wuchtige Stamm eines uralten Baumriesen gegen den Himmel – ungleich höher als das übrige Blätterdach des Waldes. Weit breitete er seine mächtigen Äste aus, und beanspruchte damit eine Fläche, auf der keine anderen Bäume wuchsen. Das Licht im Schatten unter den mächtigen Ästen wies eine eigenartige Färbung auf. Es war nur eine Nuance, um die es sich unterschied, aber es war anders.
Wind und Wetter hatten den Alten geformt. Irgendein Unwetter hatte wohl den Wipfel des Baumes abgebrochen. Eine andere Spitze war daneben gewachsen, die sich in den Himmel reckte – dem Licht zu, das die Lebensquelle bedeutete.
Aber dort war noch mehr, als nur der knorrige, alte Riese.
Plötzlich fand ich mich unmittelbar vor der rissigen Oberfläche des Baumes, ohne mich daran erinnern zu können, hierher gegangen zu sein.
Ich sah mich kurz um, und bemerkte dort im Laub meine eigenen Spuren, die hierher führten.
Das Geheimnis dieses magischen Ortes lag jedoch unmittelbar vor meinen Füssen.
Noch einmal blickte ich den turmhohen Stamm hinauf, der seit unzähligen Jahreswechseln hier aufstrebte, der Regen, Sturm, Hitze und Kälte trotzte. Dann breitete ich meine Arme aus, soweit mir dies möglich war, legte zögernd zuerst eine Handfläche auf die Rinde, dann die andere, lehnte mich gegen den Stamm, versuchte ihn zu umarmen, und drückte die Wange gegen die raue Oberfläche.
Ich schloss die Augen, atmete langsam aus, und konzentrierte meine Sinne auf das, was sich vor mir befand.
Zuerst fühlte ich nur die raue Unnachgiebigkeit des alten Riesen, mit meinen Händen, Armen, spürte den Druck gegen mein Gesicht, Brüste, Bauch und Schenkel. Ein Insekt kroch über meine Finger und kitzelte mich.
Ein Prickeln war das erste, was ich von der Magie vernahm. Die Fingerspitzen erfassten es zuerst. Von dort breitete es sich aus, kroch die Arme hinauf und noch weiter. Ich sog es in mich auf, bildete in meinem Kopf die Vorstellung, dass ich in die Rinde des Baumes einsank, wie in eine weiche Matratze.
Nun fühlte ich den Baum als Ganzes, spürte den Fluss des Lebens – von den Wurzeln herauf, dicht unterhalb der Rinde entlang, hinauf zu den Ästen, die sich in den Himmel streckten, bis in die Blätter, die die Strahlen der Sonne in sich aufsogen.
Unzählige kleine Geschöpfe lebten hier, bauten ihre Nester und Behausungen, oder verbargen sich im Schutz der Blätter und Äste.
Die Borke erschien mir wie eine Hülle, die nicht nur totes Holz umschließt. Darin war viel mehr enthalten, ein magisches Fluidum, eine Sphäre für eine besondere Art von Leben.
Es war das erste Mal, dass ich all diese Sinneseindrücke verspürte, die weit über die normalen Wahrnehmungen eines Menschen hinausgingen. Ich ließ alles auf mich einwirken, berauschte mich daran, und mit einem mal bemerkte ich etwas, das sich vom steten Fluss des grünen Lebenssaftes unterschied.
Ich hätte nicht zu sagen vermögen, was es ist, habe auch keine Gedanken oder Emotionen erfassen können. Ich wusste nur, dass es da war, und sich in dieser schützenden Hülle verbarg.
Und es kam näher.
Aus den Wurzeln, die sich tief in die Erde gegraben hatten, glitt es herauf. Es schien den Strömungen des Baumes nicht gehorchen zu müssen, denn es wurde langsamer, und bewegte sich auf mich zu.
Auf meiner Höhe angekommen, hielt es an, blieb aber in der sicheren Tiefe des uralten Holzes verborgen.
Nun glaubte ich zu wissen, was es ist, denn ich erinnerte mich daran, etwa ähnliches schon einmal vernommen zu haben.
Ich konzentrierte mich, und sandte meine Gedanken aus: „Sei mir gegrüßt, altehrwürdiger Geist des Bau-mes.“
Er kam ein paar Handbreiten näher, und verweilte dort schweigend.
„Wie ist dein Name, Geist des Baumes?“
Mein Herz klopfte vor Aufregung, und ich dachte, die Anspannung nicht länger ertragen zu können.
Er antwortete nicht, und ich sprach ihn erneut an. „Kannst du denn meine Worte nicht verstehen?“
Erschrocken registrierte ich, dass der Geist sich anschickte, wieder in die Tiefe des Stammes zurückzukehren.
Ich wagte einen letzten Versuch. „Ich brauche deine Hilfe!“
Er hielt in seiner Bewegung inne.
Innerlich frohlockte ich darüber, dass mich der Geist nun verstanden, und auf meine Bitte reagiert hatte.
„Wer bist du?“, fragte eine tiefe, alte Stimme in meinem Kopf.
„Ich bin Cassandra.“
„Und was suchst du hier?“
„Ich suche die Chelari.“
„Die Chelari? Was willst du von ihnen?“
„Einst habe ich einen Sternenstein von ihnen erhalten.“
„Einen Sternenstein?“ Er schwieg eine Weile. „Die Namen der Menschen klingen seltsam in unseren Ohren“
„Mein Name ist Cassandra. Die Chelari sagten, sie hätten auf mich gewartet - viele Generationen lang.“
Ruhe kehrte ein, und ich befürchtete schon, der Alte würde mir nicht glauben.
„Ich erinnere mich.“
Wiederum schwieg er, verweilte aber. Also wartete ich geduldig, dass er weitersprechen würde.
„Wenn du den Stein hast, warum rufst du sie dann nicht selbst?“
„Mir ist schreckliches Unrecht angetan worden, und ich habe die Fähigkeit verloren, aus der Ferne zu ihnen zu sprechen.“
Er glitt noch näher an mich heran.
„Dein Stein. Halte ihn gegen meine Borke.“
Ich holte das magische Schmuckstück aus dem kleinen Stoffbeutel hervor, und drückte ihn mit der ganzen Handfläche gegen den Baum.
Der Geist wich zurück, stieg weiter in die Höhe, bis ich ihn nur noch undeutlich ausmachen konnte, und glitt in weitem Bogen wieder herab.
„Er ist leer. Die Macht der Sterne hat ihn verlassen. Wer hat dir das angetan?“
In wenigen Sätzen berichtete ich von meiner Ermordung und Wiedergeburt.
Der Geist wich in die Tiefen des Stammes zurück, und fuhr mit der Geschwindigkeit eines Faustschlages den Stamm hinauf, bis ich ihn nicht mehr ertasten konnte.
Vögel flogen kreischend aus der Krone über mir auf. auf. Die Äste knarrten und bogen sich wie unter einem Sturmwind. Laub und kleine Zweige fielen herab.
Ich trat einen Schritt vom Stamm zurück, um nach der Ursache zu sehen.
Aber kein Lüftchen regte sich.
Hatte der Baumgeist seine Behausung zu dieser Reaktion veranlasst?
Erneut schloss ich die Augen und legte meine Wange gegen die Rinde. Ich erschrak bei dem, was ich nun wahrnahm, und wollte wieder zurückweichen, aber ich zwang mich dazu, den Kontakt aufrechtzuerhalten.
Der Baumgeist schwebte nun unmittelbar vor mei-nem Gesicht.
„Ich werde zu den Wurzeln hinuntergehen und mit den anderen Geistern sprechen. Sie werden meinen Ruf weitergeben an die anderen – soweit, bis die Chelari ihn hören.“
Ehe ich mich bedanken konnte, war der Schemen schon verschwunden.
Ich atmete vor Erleichterung tief durch und wandte mich nach Harpon um, der wenige Schritte entfernt stand, und mich nun fragend anblickte.
Wir gingen aufeinander zu und fielen uns in die Arme, als hätten wir uns tagelang nicht gesehen.
„Was ist dort geschehen?“, fragte er.
Ich erklärte es ihm, und fügte hinzu: „Es war das erste Mal, dass sich meine Sinne erweitert haben – in diesem Leben.“
„Siehst du“, sagte er mit ruhiger Stimme und strich mir übers Haar. „Alles wird wieder gut werden.“
Er hob mich hoch und wirbelte mich im Kreis herum.
Wie schön, dass er unsere Sorgen vergisst, und sich so wohl gelaunt zeigt.
Wir setzten uns ins Laub und warteten. Die Ruhe und Friedlichkeit dieses magischen Ortes nahm mich gefangen. Ich schloss die Augen, atmete tief ein, und versuchte all die Nuancen der Gerüche des Waldes zu erfassen.
Etwa raschelte im Laub.
Ich öffnete die Augen, um nach der Ursache zu sehen.
Ein kleines Tier streckte seinen Kopf unter der Schicht aus alten Blättern hervor. Es witterte in meine Richtung, spitzte die Ohren, und zog sich wieder unter die schützende Decke zurück.
Mittlerweile dämmerte es, und ich fragte mich, was nun geschehen würde.
Harpon machte mich schließlich auf eine Bewegung neben dem Baumriesen aufmerksam.
Zwei Chelari standen dort und sahen in meine Rich-tung.
Wir standen auf - langsam und bedächtig, um die scheuen Wesen nicht zu erschrecken.