Guranas wundersame Heilung


Wenn draußen der Frost klirrte, die Tage kurz, und die Nächte lang waren, und wir uns um den warmen Ofen drängten, dann las Großvater manchmal aus der alten Familienchronik vor. Er hatte das in dunkles Leder eingeschlagene Buch von seinem Vater geerbt, und der wiederum von seinem. Eigenartige Zeichen füllten die vergilbten Seiten, die kaum noch jemand lesen konnte. Doch Opa wusste noch was sie bedeuten, und wir lauschten seiner Stimme.
Und eine der alten Geschichten hat mich besonders bewegt.

„Ich will euch von dem ungewöhnlichten Ereignis berichten, das ich je in meinem langen Leben miterlebt habe. Hätte mein engster und am meisten vertrauter Freund mir davon berichtet, so hätte ich seinen Worten wohl keinen Glauben geschenkt. Aber ich habe es mit eigenen Augen gesehen, und so schreibe ich es nieder.

Gurana hieß das arme Ding. Sie war eine junge Frau, noch beinahe ein Mädchen. Zusammen mit ein paar anderen Gleichaltrigen war sie im Wald gewesen, um Früchte zu sammeln. Doch hatte sich dort unter einem Busch ein Xindi verborgen, und als sie die Hand nach ein paar besonders großen Pilzen ausstreckte, die da im feuchten Moos wuchsen, hatte das Untier sie ihr sie fast abgebissen. All unser Wissen hatten wir angewandt, um sie zu heilen, aber nichts hatte geholfen. Ihr Fleisch begann irgendwann zu faulen, und wir waren gezwungen, die Hand abzunehmen, bevor sie auch noch den Arm oder gar ihr junges Leben verloren hätte.

Erst die fremde Heilerin, die viele Wochen später zu uns kam, konnte Gurana helfen. Die Frau besaß einen magischen Sternenstein, den sie zur Gesundung einsetzte. Sie sagte, die Kraft der Sterne, die in dem Stein ruhe, würde die Menschen heilen, und sie selbst würde dieser Energie nur den Weg weisen. Aber es schien viel mehr dazu nötig gewesen zu sein. Beinahe der ganze Tag war über der Heilung vergangen, und danach war sie in den Armen ihres Mannes eingeschlafen. Blass und eingefallen sah ihr schlummerndes Gesicht aus, als hätte sie einen Grossteil ihrer eigenen Lebensenergie zur Heilung beigetragen. Ihr Mann wachte über ihren Schlaf und gönnte sich selbst kaum Ruhe. In seinem Gesicht sah ich die tiefe Sorge um das Wohlergehen seiner Frau. Gurana lief immer wieder zu den Beiden hinüber und erkundigte sich nach dem Wohlergehen der Heilerin. Manchmal wachte diese kurz auf, lächelte Gurana mit müden Augen matt an, nahm etwas Essen zu sich, und schlief wieder ein. Es dauerte lange, bis sie wieder ihr Lager verlassen konnte. Der ganze nächste Tag und die Hälfte des darauf folgenden vergingen darüber.

Währenddessen sah ich mir Guranas geheilte Hand an. Sie konnte die Finger bewegen und Arbeiten verrichten, wie mit ihrer echten Hand. Nicht die kleinste Narbe ließ auf die schweren Verletzungen schließen. Jemand, der nicht den Armstumpf gesehen hatte, würde wohl denken, dass die Hand niemals gefehlt hatte. Nur an der Haut, die zart und weich wie die eines neugeborenen Kindes war, als hätte sie auch nie jemals nur die leichteste Arbeit verrichtet, konnte man erkennen, dass es nicht ihre echte Hand war.

Gurana konnte ihr Glück kaum fassen, jede Traurigkeit war aus ihrem jungen Gesicht verschwunden. Oft saß sie da, und hielt ihre rechte Hand mit der linken gegen die Brust gedrückt, als befürchte sie, dass sie wieder verschwinden könne.

Ihre Mutter hatte nach der wundersamen Heilung vor Aufregung die halbe Nacht kein Auge zugetan, und am nächsten Morgen hatte sie auf unserem Familienaltar all ihre Kerzen gleichzeitig angezündet, als Dank für die Götter.“


(C) 2010 Hermann Weigl