Die Drachenreiter von Arctera



Prinzessin Elisabietha lenkte ihr Pferd immer weiter den Hügel hinauf, in nördlicher Richtung. Innerlich lachte sie, denn es war ihr wieder einmal gelungen, ihre Begleiter auszutricksen. Ihr Vater mahnte sie immer zur Vorsicht. Sie war sein einziges Kind, sein wertvollster Schatz, und er liebte sie über alles.
Aber was sollte ihr hier schon passieren? Einzig und allein die Bären konnten eine Gefahr darstellen. Sie mieden zwar die Menschen, aber ein Pferd stellte eine willkommene Beute dar. Doch davor hatte die junge Frau keine Angst. Ihr Pferd konnte viel schneller laufen als das wilde Tier.
Endlich wichen die letzten Bäume zurück, und sie erreichte das uralte Ruinenfeld. Vom Zahn der Zeit geschwärzte Steine, die noch die Spuren menschlicher Bearbeitung zeigten, lagen wie wahllos verstreut über die weite Fläche verteilt.
Niemand wusste mehr, welche Bauten hier einst gestanden hatten. Ein Dorf vielleicht oder eine Stadt, vermutete die Prinzessin. Sie ließ ihren Blick über das weite Areal schweifen. Es grenzte sich deutlich gegen den weiter unten liegenden Wald ab. Hier wuchsen nur kümmerliche Sträucher, niedrige Büsche und langes Gras, als würde eine unbekannte Macht den Wald davon abhalten, die alten Steine zu überwuchern.
Dennoch liebte sie diesen Ort. Ein Hauch von Melancholie lag über den uralten Ruinen.
Die Prinzessin leitete ihre Stute auf einen der Wege, die zwischen den mit Flechten bewachsenen Trümmern hindurchführten bis zum einzigen Fragment eines Bauwerkes, das noch erhalten war. Hier an der höchsten Stelle standen die Reste eines einst wohl mächtigen Turmes. Mahnend wie ein abgebrochener Finger ragte er in den Himmel auf.
Aber wozu einen Turm? Niemand baute in einem Dorf ein solches Bauwerk. Hatte es vielleicht hier eine Burg gegeben?
Von hier aus reichte der Blick weit ins Land hinein. Östlich des Niemandlandes lag Iskandar, das Reich ihres Vaters. Im Westen konnte sie Agostina, das Gebiet des verfeindeten Königs erkennen. Nach Norden hin fiel das Gelände sanft ab, und weit unten wand sich träge der breite Strom des Flusses Tiuf dahin, über dem sie undeutlich ein paar große Vögel ausmachen konnte. Dahinter begannen die undurchdringlichen Sümpfe. Nur wenige Menschen wagten sich dort hin, um zu jagen oder Fallen aufzustellen. Sie berichteten von den sonderbarsten Kreaturen, die dort hausten. Die meisten lachten über diese Geschichten, aber einige nahmen sie dennoch ernst, und ihre Gesichter verfinsterten sich, wenn sie davon hörten. Noch weiter im Norden begannen die Zahnberge, deren Gipfel mit ewigem Eis bedeckt waren.
Und im Süden sah sie die schwarz verbrannten Schlachtfelder, auf denen sich die Armeen der beiden Länder in sinnlosen Schlachten verausgabten. Schon so lange sie zurückdenken konnte, herrschte Krieg. Auch ihr Vater und die ältesten Bewohner der Burg hatten nie den Frieden erlebt. Niemand wusste mehr, wie es zu den Auseinandersetzungen gekommen war, und einige behaupteten, dass schon immer Krieg zwischen Agostina und Iskandar geherrscht habe.
Die Prinzessin wandte den Blick ab, und sah kurz zum Himmel. Es war noch ausreichend Zeit, um in Ruhe den Rückweg anzutreten.
Sie zog ihr Pferd an den Zügeln herum und lenkte es im Schritt zwischen den Ruinen hindurch in Richtung der väterlichen Burg. Sicher würden ihre Begleiter wieder ungehalten reagieren, aber manchmal verspürte sie den Drang mit sich und ihren Gedanken alleine zu sein.
In wenigen Wochen wird ihr achtzehnter Geburtstag sein, und dann sollte sie vermählt werden. Sie mochte den Mann nicht, den ihre Eltern für sie vorgesehen hatten. Am liebsten hätte sie gar nicht geheiratet, aber ihr Vater ließ sich nicht von seinen Plänen abbringen.
Ganz in Gedanken versunken hatte sie wenig auf ihre Umgebung geachtet. Das Gebrüll eines Tieres ließ sie aufschrecken. Es war einer der gefährlichen Braunbären, erkannte sie voller Entsetzen. Das Tier hatte sich auf die Hinterbeine gestellt und eine seiner riesigen Tatzen mit den mörderischen Krallen zum Hieb ausgeholt. Ihr Pferd wieherte in panischem Erschrecken, scheute, und begann am ganzen Leib zu zittern. Die Prinzessin zog die Zügel straff an, aber das Reittier war wie von Sinnen. Es stellte sich auf die Hinterhand, und die Frau verlor den Halt. Sie rutschte aus dem Sattel, und fiel unsanft auf den Boden.
Sie sah noch, wie das Tier in heller Panik floh. Grasnarben flogen durch die Luft.
Wie ein Fels ragte wenige Schritte vor ihr der Bär auf. Brüllend riss er das Maul mit dem riesigen Gebiss so weit auf, dass Elisabietha die scharfen Fangzähne deutlich sehen konnte. Geifer tropfte von den Lefzen des Tieres.
In diesem Augenblick hatte die Prinzessin mit ihrem Leben abgeschlossen. Hätte sie doch nur auf die Warnungen ihres Vaters gehört, und wäre sie im Schutz ihrer Begleiter geblieben.
Plötzlich fiel ein Schatten über sie. Gewaltige Schwingen rauschten, und eine Ausgeburt der Hölle kam vom Himmel herab auf sie zu. Ein langer Hals mit stachelbewehrtem Schädel streckte sich über sie hinweg, holte tief Luft, und brüllte den Bären an.
Sie hob einen Arm zum Schutz über den Kopf, der Boden schien zu wanken. Sie verdrehte die Augen und verlor die Besinnung.

Irgendwann kämpfte sich das Bewusstsein der Prinzessin wieder an die Oberfläche durch. Sie hörte Vögel zwitschern und Insekten zirpen. Langsam öffnete sie die Augen.
Sie lag auf einer Wiese, umgeben von hohem Gras. Sie sah Blüten und Insekten, die um sie herumschwirrten.
Der Bär kam ihr wieder in den Sinn. Ein eisiger Schrecken durchfuhr sie bei dem Gedanken an das gefährliche Tier. Trotzdem richtete sie sich langsam auf, um sich umzusehen, und blickte genau in die Augen des Untiers, das vom Himmel herabgekommen war.
Die Prinzessin gab einen erschrockenen Laut von sich, und hielt in der Bewegung inne. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie überlegte, was sie nun tun sollte. Sie beschloss, langsam nach hinten zu kriechen, und dann irgendwann fortzulaufen, aber das Monster hielt sie mit seinem Blick fest.
Sie wagte kaum zu atmen, als könne die kleinste Bewegung das Tier zu einem Angriff veranlassen. Aber das Ungeheuer bewegte sich nicht. Es beobachtete sie nur.
Wenn es gewollt hätte, dann hätte es mich längst fressen können, überlegte die Prinzessin.
Allmählich siegte die Neugier der jungen Frau über ihre Furcht. Sie wagte es, den Blick von den Augen des Monstrums zu lösen, um es eingehender zu betrachten.
Dicke Knochenwülste schützten die Augen des Tieres. Dornartige Fortsätze auf dem Kopf standen schräg nach hinten ab. Die lange Schnauze lief nach vorne spitz zu, und ließ vermuten, dass sich im Maul des Tieres ein gewaltiges Gebiss befand. Der Kopf saß auf einem langen Hals, der wohl so breit wie der Rücken ihres Pferdes war. Der Hals ging in einen gewaltigen Rumpf über, dessen ganze Größe sie aus ihrem Blickwinkel nicht erfassen konnte. Schuppen bedeckten den Körper, die wie poliertes Messing glänzten. Die Seiten hoben und senkten sich unter den gleichmäßigen Atemzügen des Geschöpfes. Auf dem Rücken erblickte sie ein Paar zusammengefaltete Flügel. Das Tier hatte sich auf dem Boden niedergelassen, und die Beine mit den unterarmlangen, silbernen Krallen vor sich gelegt. Ein eigenartiger, aber nicht unangenehmer Geruch ging von ihm aus, der sie an den des schwarzen Olivenöls erinnerte.
Ihr Blick kehrte zu den Augen der Kreatur zurück, die sie noch immer betrachteten. Die Sehorgane waren weitaus größer als das ganze Gesicht der Prinzessin. Die Iris schimmerte in einem goldenen Farbton, und tiefschwarze handtellergroße Pupillen musterten sie. Eine eigenartige Faszination ging von diesen Seelenfenstern aus. Sie schienen nicht zu einem Untier passen zu wollen. Hätte sie diesen Blick bei einem Menschen gesehen, hätte sie daraus Güte und Weisheit gelesen. Aber hier...?
Die hornigen Lippen des Wesens bewegten sich, und formten Worte in ihrer Sprache. „Hab keine Angst. Der Bär ist fort.“
Der Prinzessin stockte der Atem. Das Tier hatte zu ihr gesprochen! Die Stimme war unglaublich tief, die Silben eigenartig betont, und erinnerte sie an die Sprechweise der Schauspieler in den historischen Theateraufführungen, zu denen sie ihr Vater immer mitnahm. Aber sie hatte jedes Wort verstanden.
Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen, und sagte: „Du kannst sprechen?“
„Natürlich kann ich das.“
„Aber Tiere können doch nicht...“, platzte es aus ihr heraus.
„Ich bin kein Tier. Ich bin eine Drachin.“
„Ein Drache?“ Elisabietha hatte schon von diesen magischen Wesen gehört. Aber es waren nur Geschichten, die von Generation zu Generation weitererzählt wurden. Niemand wusste etwas Genaues. Keiner hatte jemals eines dieser magischen Geschöpfe gesehen. Aber die Geschichten existierten nun einmal. Und jede Sage hatte einen wahren Kern.
„Kein Drache. Eine Drachin“, korrigierte sie. „Und ich heiße Unari.“
„Unari“, wiederholte Elisabietha, und schluckte schwer. Eine sprechende Drachin hatte sie vor dem Angriff eines Bären geschützt. Das würde ihr wohl niemand glauben.
„Ich war noch nie einem Mensachen so nahe“, meinte Unari. „Bist du männlich oder weiblich?“
Die Frage verwunderte die Prinzessin. Sah man das denn nicht? „Ich bin eine Frau. Eine Prinzessin.“
„Eine Prinzessin? Was ist das?“
„Die Tochter des Königs!“
„Oh. Es tut mit leid. Das wusste ich nicht.“
„Schon gut.“
„Und wie ist dein Name, Prinzessin?“
„Elisabietha.“
Mit einemmal musste sie an ihre Stute denken. Suchend sah sie sich um.
Die Drachin schien ihre Unruhe bemerkt zu haben. „Was ist?“, fragte sie.
„Mein Pferd.“
„Dem ist nichts geschehen. Es ist weggelaufen.“
Elisabietha seufzte erleichtert auf.
„Du sorgst dich um das Tier?“, fragte Unari.
„Ja. Es ist so gutmütig.“
„Wenn du dich um andere Geschöpfe sorgst, dann beweist mir das, dass du ein gutes Herz hast, Prinzessin.“
„Ich danke dir, dass du mir geholfen hast. Hättest du den Bären nicht vertrieben, hätte er mich bestimmt getötet. Ein Glück, dass du in der Nähe warst.“
„Es war kein Zufall. Ich habe dich gehört - deine Kopfstimme. Du hattest Angst. Große Angst. Und du hast geschrieen - in höchster Not. Ich wollte dir helfen. Deswegen kam ich hierher.“
Die Prinzessin konnte sich nicht daran erinnern, überhaupt einen Laut von sich gegeben zu haben. „Kopfstimme?“
„Du weißt nicht, was das ist? Ist denn das Wissen um diese wunderbare Fähigkeit unter den Menschen verloren gegangen?“
„Ich habe noch nie davon gehört, obwohl mein Vater mich von den besten Gelehrten hat unterrichten lassen.“
„Das ist traurig. Sehr traurig. So viel ist vergessen worden.“ Die Drachin tat einen tiefen Schnaufer. Es hörte sich an wie der riesige Blasebalg in der Schmiede der Burg. „Aber du hast sie - diese besondere Gabe. Du hast die Kopfstimme.“
„Wie kann ich etwas besitzen, von dem ich nicht weiß, was es ist?“
„Es ist eine natürliche Begabung, die man mit der Geburt erhält. Alle Drachen haben diese Stimme. Aber unter Menschen ist sie nur selten - höchst selten.“
„Und was ist diese Kopfstimme?“
„Man kann sich damit verständigen, ohne die Worte auszusprechen.“
„Aber das ist doch nicht möglich...“
„Warte. Ich werde es dir zeigen.“
Die Prinzessin glaubte, ein leichtes Prickeln im Nacken zu verspüren, das sich allmählich nach oben über die ganze Kopfhaut ausbreitete.
Und dann vernahm sie die Stimme der Drachin in ihrem Bewusstsein: „Siehst du. Du hast diese besondere Begabung.“
„Aber...“
„Es erfordert viel Übung, um mit dieser Stimme sprechen zu können. Man muss lernen, sie an die richtige Person zu richten, sich gegen andere zu sperren. Man will auch nicht, dass alle eigenen Gedanken bloßliegen.“
Unari richtete sich plötzlich auf die Hinterbeine auf, hob den Kopf an seinem langen Hals weit nach oben, und schien einen Punkt in der Ferne zu suchen. Groß wie ein Turm ragte sie vor ihr auf. Dann beugte sie sich wieder zu der jungen Frau herunter. „Reiter nahen. Sie sind wohl auf der Suche nach dir. Ich muss jetzt verschwinden.“
„Werde ich dich wieder sehen?“
„Morgen. Wenn die Sonne am höchsten steht. Dann werde ich wieder hier sein.“
„Ich werde hier sein. Vielen Dank, Unari.“
Die Drachin wich etwas zurück, entfaltete die Schwingen, und erhob sich mit mächtigen Flügelschlägen in die Luft, um über den Wipfeln der Bäume zu verschwinden.
Elisabietha sah ihr nach, bis sie aus ihrem Blick entschwand.

Es waren tatsächlich Reiter des Königs, die nach ihr gesucht hatten. Sie führten ein zusätzliches Pferd mit sich, auf das sich die Prinzessin schwang. Sie erzählte nicht die ganze Wahrheit, sondern meinte nur, ein Bär hätte ihr Pferd erschreckt, und sie sei aus dem Sattel gestürzt. Bär und Pferd seien davongelaufen.

Nach der üblichen Schelte umarmte sie ihren Vater, der ihr im Grunde seines Herzens gar nicht böse sein konnte, und zog sich dann in ihre Gemächer zurück.
Lange konnte Elisabietha in dieser Nacht nicht einschlafen. Unruhig drehte sie sich hin und her. Ihre Gedanken kreisten um das heute Erlebte. Immer wieder erschien der Bär vor ihrem geistigen Auge, fletschte das riesige Gebiss mit den scharfen Fangzähnen, die sie hätten mühelos zerreißen können.
Und dann sah sie Unari, das mächtigste Lebewesen, dem sie jemals begegnet war, den geschuppten Körper, der im Sonnenlicht glänzte, und ihre eindrucksvollen Augen. Ein tiefes Glücksgefühl machte sich in ihr breit, und sie dachte voller Liebe und Wärme an ihre neu gewonnene Freundin.
Irgendwann dämmerte sie dann doch in den Schlaf hinüber.

Am nächsten Morgen überlegte die Prinzessin, wie sie nun vorgehen sollte. Zuallererst wollte sie den Gelehrten Gaius sprechen, der sie viele Jahre lang unterrichtet hatte. Sie schätzte den alten Mann, sein Wissen um die Naturwissenschaften, und seine ruhige, nachdenkliche Art. Ihre Dienerinnen schickte sie mit Aufträgen weg. Dann legte sie sich einen alten, schmucklosen Umhang um, und verließ ihre Gemächer. Der Raum, den der Gelehrte bewohnte, befand sich im Westflügel der Burg. Die Kapuze über den Kopf gezogen eilte sie durch die Gänge, mied die breiten Haupttreppen, und nutzte stattdessen diejenigen, die für die Bediensteten vorgesehen waren.
Gaius besaß das Privileg, einen eigenen großen Raum zu bewohnen, den er gleichzeitig als Labor, und für seine Studien benutzte. Die Prinzessin klopfte an der breiten Türe, obwohl sie das als Königstochter hätte gar nicht tun müssen. Aber sie respektierte den Gelehrten, und wollte nicht unangemeldet in seine Studien hineinplatzen. Als Elisabietha seine Aufforderung zum Eintreten vernahm, zog sie die Tür einen Spalt auf und schlüpfte in den Raum hinein.
Hohe Regale voller Bücher bedeckten die Wände des Zimmers, das wohl doppelt so groß wie ihr eigenes war. Auf einem massiven Holztisch standen allerlei Gläser, Reagenzien, Schalen, ein Mörser und vielerlei anderes Gerät. Eine giftgrüne Flüssigkeit kochte blubbernd vor sich hin. Die Königstochter kam an einem weiteren Tisch vorbei, den eine Unmenge an Büchern bedeckte, von denen einige aufgeschlagen waren. Im Hintergrund war ein Bereich durch einen Vorhang abgetrennt. Dort befand sich die Schlafstelle des Gelehrten. Daneben war ein offener Kamin an die Wand gebaut, der um diese Jahreszeit nicht beheizt wurde, und davor hatte man einen niedrigen Tisch und zwei bequeme Sessel platziert. Links davon sah sie den breiten Schreibtisch, der neben dem größten Fenster des Raumes stand. Er war überladen mit Büchern und Schriftrollen aller Art. Und dahinter erblickte sie den wirren, grauen Haarschopf des Gelehrten. Sie hörte das kratzende Geräusch, das eine Schreibfeder auf einem Pergament verursachte, und wartete geduldig, dass der Mann seine Arbeit beendete. Irgendwann hörte er zu schreiben auf, hob den Kopf über die Ebene seines Arbeitstisches, und sein Gesicht nahm einen erstaunten Eindruck an.
„Oh, Majestät. Euch hatte ich nicht erwartet.“ Er erhob sich aus dem hochlehnigen Ledersessel und kam um den Tisch herum auf die Prinzessin zu, um sich vor ihr zu verneigen.
„Ich grüße Euch, ehrenwerter Gaius“, sagte sie und lächelte den alten Mann an.
„Wie kann ich Euch helfen, Prinzessin?“
Elisabietha hatte sich ihre Worte zurechtgelegt, wie sie die Fragen vorbringen wollte. Aber nun warf sie alles über den Haufen. „Mir ist etwas zu Ohren gekommen, das ich nicht glauben will. Ihr seid der klügste Mann, den ich kenne. Und vielleicht könnt Ihr mir sagen, ob es der Wahrheit entspricht.“
„Nun. Ich werde mein Möglichstes tun, Majestät. Worum geht es?“
„Sagt mir, habt Ihr jemals von einer Kopfstimme gehört?“
Überraschung zeigte sich auf dem faltigen Gesicht des Gelehrten. „Verzeiht mir?“
„Ich hörte, dass manche Menschen die Begabung haben, sich mit Gleichgesinnten ohne Worte zu unterhalten.“
„Ihr meint womöglich einen Bauchredner?“
„Nein. Die Sätze bilden sich direkt im Kopf des Angesprochenen.“
„Hm“, meinte er und kratzte sich am Kinn. „Kopfstimme. Man sagt auch Gedankenstimme. Ich glaube, mich daran erinnern zu können, einmal davon gelesen zu haben. Es war während meiner Studien an der Universität in Xandria. Es war...“ Eine steile Falte bildete sich auf seiner Stirn. „Es war nur ein einziger Hinweis. Die Rede war von Zwillingen, die sich auf diese höchst sonderbare Art und Weise verständigen konnten. Man brachte sie in unterschiedliche Räume, und der eine Mann konnte berichten, was in dem anderen Raum gesprochen wurde. Äußerst merkwürdig. Aber es kann auch Scharlatanerie gewesen sein. Solcherlei Quellen sind oft nicht zuverlässig.“
„Aber eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht?“
„Der Autor muss seine Gründe gehabt haben, dieses Ereignis niederzuschreiben, auch wenn es keine anderen Bestätigungen für seine Beobachtungen gibt.“
Die Prinzessin erinnerte sich an das eigenartige Prickeln, das sie überkommen hatte, bevor die Drachin zu ihr gesprochen hatte. Es war keine Einbildung gewesen, dessen war sie sich sicher.
„Vielen Dank, Gaius. Ihr habt mir sehr geholfen.“
Verwundert sah er sie an. „Nun. Stets zu Euren Diensten.“
„Noch ein Gedanke beschäftigt mich.“
„Bitte, sprecht, Majestät.“
„Die Jäger, die aus den Sümpfen zurückkehren, berichten oft von eigenartigen Kreaturen, die dort leben. Was haltet Ihr davon, Gaius? Gibt es dort Drachen?“
Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn aber eine ganze Weile nicht mehr. Eine Augenbraue wanderte ein Stück nach oben, und er sprach: „Die Einsamkeit und zuviel Kräuterschnaps lassen die Menschen bisweilen Dinge sehen, die gar nicht da sind. Aber...“ Er trat an eines der Regale heran, und fuhr mit dem Finger über die Rückseiten einiger Bücher, bis er eines hervorholte. Es war kleiner als die anderen Folianten, in Leder eingeschlagen, und schien schon sehr alt zu sein. „Einige behaupten, in grauer Vorzeit hätte es diese Lebewesen wirklich gegeben. Andere sagen, sie entstammten nur der Phantasie irgendwelcher Geschichtenerzähler, die sich wichtig machen wollen. Aber seht selbst.“
Gaius schlug das Buch auf, blätterte darin, und hielt der Prinzessin eine Zeichnung hin.
Elisabietha nahm das Buch entgegen und trat näher ans Fenster heran, um besser sehen zu können. Und sie glaubte ihren Augen nicht trauen zu können, bei dem was sie dort sah.
Es war eine detailgetreue Zeichnung von Unari.
„Gaius, ich möchte dieses Buch in Ruhe studieren. Ihr erlaubt doch, dass ich es mit mir nehme.“
„Aber selbstverständlich, Prinzessin. Aber gebt bitte gut darauf Acht. Es ist sehr alt, und auch sehr wertvoll. Ich habe es von meinem Vater geerbt, und der hat es von seinem.“
„Ich werde darauf achten. Habt vielen Dank, Gaius.“ Mit diesen Worten wollte sie sich zum Gehen wenden.
„Prinzessin, ich kenne Euch schon Euer ganzes Leben lang. Deswegen erlaubt mir eine Bemerkung.“
„Bitte sprecht, Gaius.“
„Man spricht über Euch. Ihr solltet nicht alleine ausreiten. Ihr könntet dort draußen auf große Gefahren stoßen.“
„Oder auf etwas Wunderbares...“ Sie drehte sich noch einmal zu dem Gelehrten um, und blickte in sein verwundertes Gesicht. „Bitte behaltet dieses Gespräch für Euch. Versprecht es mir.“
„Ihr habt mein Wort.“
Die Prinzessin drückte das Buch gegen ihre Brust, als wäre es ein kostbarer Schatz, und eilte aus dem Raum.
Als nächstes wollte sie mit einem der Jäger sprechen. Tief in Gedanken versunken, ging sie quer über den Burghof in Richtung der Ställe, und wäre beinahe mit dem Hauptmann der Wache zusammengestoßen. Glücklicherweise erkannte er sie nicht. Im Stall fragte sie den Burschen, der ihr Pferd versorgte, welche Jäger derzeit in der Burg verweilten. Es war nur einer, und der war zum Ausmisten der Ställe verdonnert worden, weil er mal wieder ‚Was ausgefressen hatte’, wie der Junge sagte.
In der hintersten Box traf Elisabietha auf den Mann. Missmutig stocherte er mit einer Heugabel im alten Stroh herum, das den Boden bedeckte.
„Bist du ein Jäger?“, fragte die Prinzessin.
Er hielt in seiner Bewegung inne, richtete sich auf, und wandte sich ihr zu. Sein grobporiges Gesicht wurde von einem monumentalen Schnurrbart beherrscht. Buschige Augenbrauen, eine große, knollige, gerötete Nase, und funkelnde kleine Augen verliehen ihm eine äußerst Respekt gebietende Miene.
Der Mann nahm seine Mütze ab, und verbeugte sich tief. „Ja, Prinzessin. Zumindest war ich einer. Jetzt wurde ich aber mit wichtigeren Aufgaben betreut“, sagte er mit vor Sarkasmus triefender Stimme. Dabei wies er mit seinem Werkzeug auf den schmutzigen Boden.
„Komm für einen Augenblick mit ins Freie. Ich muss dir ein paar Fragen stellen.“
Der Jäger warf die Heugabel voller Zorn in eine Ecke und folgte ihr.
„Wie oft warst du schon in den Sümpfen?“, wollte die Prinzessin wissen.
Er kratzte sich am Kopf. „Wohl schon mehr als zwei Dutzend Mal. Aber warum fragt Ihr das, Majestät?“
„Beantworte nur meine Fragen, und ich werde mit dem Stallmeister darüber reden, dass er dir eine andere Arbeit gibt.“
„Sehr wohl, Majestät.“
„Ich habe gehört, dort solle es eigenartige Tiere geben - solcher Art, wie man sie hier nirgends zu sehen bekommt.“
„Ihr wollt Euch doch nicht über mich lustig machen?“
Der Mann hatte wohl schon unangenehme Erfahrungen gesammelt, oder, wie Gaius gesagt hatte, man hatte seine Beobachtungen dem Kräuterschnaps zugeschrieben.
Die Prinzessin schlug das Buch auf und zeigte dem Mann die Abbildung des Drachen.
Die Augen des Jägers traten beinahe aus den Höhlen, und er sah sich erst nach allen Seiten um, bevor er antwortete. „Ich bitte Euch, Prinzessin. Sagt keinem Menschen, was ich Euch nun erzählen werde.“
„Ich verspreche es dir. Kein Wort darüber wird über meine Lippen kommen.“
„Es war vor drei oder vier Jahren. Im Herbst hatte ich mich auf den Weg in die Sümpfe gemacht. Vorher geht es nicht, wegen der vielen Mücken. Ich habe dort eine Hütte gebaut, und von da aus gehe ich zur Jagd. Und eines Tages. Es war gegen Abend. Ich war gerade auf dem Weg zurück zu meiner Hütte. Ich schwöre, ich hatte an dem Tag noch keinen Tropfen getrunken. Es gibt dort eine Stelle, wo man durch eine enge Schlucht geht, und dann an einem See herauskommt. Ich trat aus dem Schatten ins Sonnenlicht hinaus, und kniete am Wasser nieder um zu trinken. Ich hatte nicht auf das andere Ufer geachtet, und die Sonne blendete mich. Da sah ich etwas Ungeheures, das sich im Wasser spiegelte.“ Er deutete auf das Buch, und setzte hastig fort. „Ich wagte kaum zu atmen, hob langsam den Kopf, und sah zum anderen Ufer hinüber. Und dort saß der Drache - keinen halben Steinwurf entfernt. Er war größer als eine achtspännige Kutsche samt Pferde. Und er hatte mich bemerkt, denn er drehte den Kopf an seinem langen Hals in meine Richtung, und blickte mich aus riesigen Augen an. Ich dachte schon, dass jetzt mein letztes Stündchen geschlagen hat. Aber er tat mir nichts. Er beobachtete mich eine Weile, dann entfaltete er Flügel, die so groß wie das Dach des Stalls waren, und schwang sich in die Lüfte.“
Der Mann beendete seine Geschichte und wischte sich den Schweiß von der Stirn, der sich im Laufe seiner Erzählung dort gebildet hatte.
„Von welcher Farbe war der Drache?“
„Braun“, überlegte der Mann. „Sehr dunkel. Fast schwarz.“
Dann konnte es also nicht Unari gewesen sein. Alles was die Drachin erzählt hatte, schien der Wahrheit zu entsprechen, überlegte die Prinzessin.
„Ihr glaubt mir doch, Prinzessin?“, fragte der Jäger, und sah sie flehend an.
„Ich bin davon überzeugt, dass du die Wahrheit sprichst. Aber du solltest zu keinem Menschen ein Wort von diesem Gespräch sagen. Zumindest vorerst noch nicht.“
„Vorerst? Was hat das zu bedeuten?“
„Du wirst wissen, wenn es so weit ist“, sagte die Prinzessin mit einem verschmitzten Lächeln, und begab sich auf die Suche nach dem Stallmeister, um ihr Versprechen zu halten.

Jeden Tag schlich sich Elisabietha aus der Burg, um zu der Drachin zu gelangen.
Sie lernte, ihre Kopfstimme zu benutzen und unter Kontrolle zu halten. Es war schwer und einmal schlief sie vor Erschöpfung ein.
Die Drachin lehrte sie auch viel über ihr Volk und das uralte Bündnis zwischen Drachen und Menschen. Diese mächtigen Wesen erhielten von ihnen die Früchte des Mandelbaumes, welche die Drachen selbst nicht ernten oder sammeln konnten. Im Sumpfland, wo die geflügelten Wesen früher lebten, wuchsen diese Bäume nicht, weil sie für ihre Wurzeln festen Untergrund brauchten. Ihre Hauptnahrung stellten die Tiere dar, die sie im Sumpfland oder den Tälern des Nebelgebirges erbeuteten. Aber sie verschmähten auch andere Früchte nicht, welche sie als Delikatessen ansahen.
Aber am wichtigsten waren die Mandelfrüchte, die ihren Jungen halfen, die kalte Jahreszeit besser zu überstehen.
Im Gegenzug gingen einige Drachen mit den wenigen Menschen, welche die Kopfstimme hatten, ein Bündnis ein, und machten sie zu Drachenreitern. Diese Auserwählten genossen hohes Ansehen, und führten die unterschiedlichsten Aufgaben aus, wovon die Grenzüberwachung und Botenflüge die wichtigsten waren.
Die Drachin verriet der Prinzessin auch, dass die Menschen wegen ihrer geringen Größe auf sie wie Kinder wirken, und deswegen ihren Bemutterungsinstinkt wecken.

Der König wurde sehr wütend an diesem Abend, weil Elisabietha trotz seines Verbotes erneut die Burg verlassen hatte, und drohte damit, sie in ihr Zimmer sperren zu lassen, wenn sie weiterhin ihre Ausflüge unternahm.
Dennoch wollte sie es noch einmal wagen.
Elisabietha hatte einer Magd für ein paar Geldstücke ihre Kleidung abgekauft, und einem Stallburschen den Auftrag gegeben, mit einem gesattelten Pferd an der Nordpforte auf sie zu warten. Ein Silberstück würde dafür sorgen, dass der Junge schwieg.
Sie schwang sich in den Sattel und lenkte das Ross in Richtung der alten Ruinen.

Die Drachin war noch nicht da, als die Prinzessin ihr Ziel erreichte. Sie stieg aus dem Sattel, führte das Pferd in den Schatten unter einem großen Baum, und band die Zügel an einem Ast fest. Dann trat sie wieder ins Sonnenlicht und suchte den Himmel ab.
Was, wenn nun Unari ausgerechnet heute nicht erscheinen würde? Womöglich hatte auch sie einen strengen Vater, der nicht duldete, dass sie sich hier herumtrieb.
Sie vermeinte ein Geräusch vernommen zu haben, das nicht hierher gehörte.
Ein Schatten fiel über sie und die goldene Drachin ging mit gewaltigen Flügelschlägen nieder. Zuerst setzte sie in einer eleganten Bewegung das hintere Beinpaar auf, dann das vordere, und faltete zuletzt die riesigen Schwingen auf dem Rücken zusammen.
Die Prinzessin lief zu ihr hinüber, versuchte ihren Kopf zu umarmen, um aber feststellen zu müssen, dass dies einfach nicht möglich war, und klammerte sich schließlich an ihrem Hals fest.
Und erneut hörte sie die fremde Stimme in ihrem Kopf.
„Es freut mich, dass du mich gern hast, Elisabietha. Und auch ich kann dieses Gefühl erwidern.“
Mit Tränen in den Augen erzählte die Prinzessin vom Verbot ihres Vaters.
„Dann ist es wohl nun an der Zeit, dass ich meine Botschaft überbringe“, antwortete Unari. „Und zu diesem Zweck werden wir gemeinsam zur Burg fliegen.“
Elisabietha nahm dem Pferd das Zaumzeug ab, und verstaute es in den Satteltaschen. Dann gab sie dem Tier einen Klaps und beobachtete, wie es in Richtung der Burg davonlief.
„Siehst du die beiden Fortsätze auf meinem Hals, kurz vor den Flügeln?“, sagte die Drachin. „Dazwischen ist eine Stelle, die beinahe wie ein Sitz geformt ist. Früher haben dort die Drachenreiter gesessen.“
„Ja. Ich sehe es.“
„Dann steig auf.“

Unari legte sich flach auf die Erde. Die Prinzessin kletterte auf ihren Hals, und ließ sich an der angegebenen Stelle nieder.
„Halt dich gut fest“, wies Unari die junge Frau an.
Elisabietha hätte niemals gedacht, dass sich die riesige Drachin mit so viel Kraft in die Luft erheben kann. Sie spürte förmlich wie sie die mächtigen Flügelschläge aufwärts bewegten und auf ihre Sitzfläche pressten, während sie sich mit beiden Händen an den Fortsätzen festklammerte. Schon waren sie höher als die umgebenden Bäume. Ihr Blick ging in die Ebene hinab, und weiter bis zu den Bergen, deren Spitzen die untergehende Sonne schon rot färbte.
Unari folgte dem Weg, den sie jeden Tag mit ihrem Pferd nahm, und schon bald überholten sie das Reittier, das sie hatte laufen lassen. Klein wie eine Katze sah es von hier oben aus.
Der Wind rauschte Elisabietha um die Ohren, und zerzauste ihr Haar, das sich schon gänzlich aus dem Knoten gelöst hatte.
Die Prinzessin jauchzte von Freude.
„Es scheint dir zu gefallen“, sagte die Drachin mit ihrer Gedankenstimme.
„Ich habe noch nie etwas so Wundervolles erlebt.“
Ein Reiter jagte in gestreckten Galopp in Richtung der Burg. An der Kleidung erkannte die Prinzessin, dass es ein Bote war. Aber schon hatte der Drache den Mann hinter sich gelassen, und als sich die Prinzessin umwandte, konnte sie den Reiter nur noch als kleinen Punkt hinter sich erkennen. Und dabei machte Unari nicht den Eindruck, als ob sie sich anstrengen müsse.
Wie schnell mochte sie wohl fliegen können, wenn sie ihre ganze Kraft einsetzte?
Fasziniert beobachtete Elisabietha den langen Schwanz der Drachin, der sich wie eine Schlange hinter ihr herbewegte. Das Ende war abgeflacht und in der Mitte geteilt.
Unari drehte nun ein paar Schleifen und stieg dabei immer höher. Auf einem Feld arbeiteten Menschen, die klein wie Ameisen aussahen. Das silberne Band eines Flusses überquerten sie, dann sah die Prinzessin in der Ferne schon die hohen Türme des elterlichen Schlosses.
Viel zu kurz währte der der erste Flug.
„Wir können noch viele Orte miteinander besuchen, Prinzessin“, beruhigte sie die Drachin.
Schon war die Burg erreicht. Unari schlug nicht mehr mit den Flügeln, sondern glitt in vielen Kreisen immer tiefer. Die Burg und das angrenzende Dorf sahen von hier oben aus wie kleine Holzklötze, mit denen Kinder spielen.
Nun fiel der Prinzessin ein, dass der Burghof eigentlich viel zu klein für die Landung war. Außerdem würden dann all die Menschen in Schrecken versetzt werden. Das wollte die Prinzessin auf keinen Fall haben. Die Leute sollten von der Gutmütigkeit ihrer neuen Freundin überzeugt werden.
Um die Burg herum führte ein tiefer Graben, der nur an zwei Stellen auf Zugbrücken überquert werden konnte.
„Unari, kannst du auf der Wiese neben dem Weg, der zur Burg führt, landen?“
„Aber gerne.“

Die Drachin ging noch tiefer, und flog an der Burg vorbei, über den Landeplatz hinweg.
Elisabietha sah die Menschen auf den Zinnen und ihre erstaunten Gesichter. Sie winkte ihnen zu und bemerkte, wie sie in ihre Richtung deuteten.
Unari drehte eine letzte Schleife und landete in einer eleganten Bewegung auf der grünen Wiese.
Von der Burg her ertönten die ersten Fanfarenstösse - das Signal, dass Gefahr droht.
Die Prinzessin machte sich nun die größten Sorgen - nicht um sie selbst, sondern um die Drachin, die wohl nun als Bedrohung angesehen wurde.
„Unari, ich werde ganz in deiner Nähe bleiben.“
„Du hast Angst um mich?“
„Ja. Das habe ich.“
„Du braucht dich nicht zu sorgen. Im schlimmsten Fall werde ich einfach wieder wegfliegen.“
„Aber...“
„Dann kannst du den Menschen berichten. Und sie werden deinen Worten Glauben schenken, weil sie dich zusammen mit mir gesehen haben.“

Nun kamen die ersten Soldaten über die Zugbrücke gelaufen. Sie trugen Hellebarden mit sich, und eilten in Richtung der Drachin. Bald darauf erschienen Berittene, die an den Fußsoldaten vorbei auf die Prinzessin zukamen.
In weitem Halbkreis stellten sich die Soldaten um die Drachin auf, hoben drohend Schwerter, Hellebarden und Speere, und redeten alle durcheinander.
„Senkt eure Waffen“, rief die Prinzessin so laut sie konnte. „Ich befehle es auch. Senkt die Waffen.“
Einige kamen ihrer Aufforderung nach, andere zögerten, und die meisten hörten nicht auf sie.
Ein Ritter löste sich aus der Menge und kam mit der Lanze im Anschlag auf Unari zu. Die Prinzessin glitt vom Hals der Drachin, lief nach vorne, und stellte sich schützend mit ausgebreiteten Armen vor sie hin. „Ritter Gregor. Ich befehle Euch! Senkt Eure Waffen!“
„Prinzessin! Geht da weg. Ich werde das Untier erlegen.“
Elisabietha verspürte nun Angst wie noch nie zuvor in ihrem Leben - nicht um sich selbst, sondern um das Leben ihrer Freundin. „Das werdet Ihr nicht tun. Dann müsst Ihr schon vorher mich töten.“
„Ehrenwerter Ritter“, sagte nun Unari mit einer Stimme, die alle anderen übertönte. „Ihr könntet mir mit dieser Lanze gar keinen Schaden zufügen. Nun hört auf die Worte der Prinzessin und beendet Euren Angriff.“
Der Ritter war nur noch wenige Pferdelängen von der Prinzessin entfernt. Er zügelte sein Pferd und klappte das Visier hoch. Maßloses Erstaunen stand dort geschrieben.
„Ich bin in friedlicher Absicht gekommen“, sagte die Drachin. „Und wir wollen doch unsere Gespräche ohne Waffen führen.“
Die Prinzessin wich nicht von der Seite ihrer Freundin, und legte ihre Arme schützend um deren Kopf - soweit dies möglich war.
„Jetzt ruft nach meinem Vater“, rief Elisabietha mit dem letzten Rest an Beherrschung. „Wir überbringen eine Botschaft.“
Erst jetzt fiel der Prinzessin auf, wie viele Menschen inzwischen zusammengelaufen waren. Die Soldaten waren nun in der Minderzahl und wurden einfach zur Seite gedrängt.
Einen der Männer, der sich am weitesten vorwagte, erkannte die Prinzessin wieder. Es war der Jäger, der ihr von seinem Erlebnis im Sumpf berichtet hatte.
„Jäger!“, rief sie. „Komm zu mir. Sie ist nicht gefährlich.“
Der Angesprochene wagte sich noch näher, und sah sie und die Drachin an, als wäre ihr plötzlich ein zweiter Kopf gewachsen.
„Jäger! Stell dich neben mich. Beschütze die Drachin gemeinsam mit mir!“ Dann wandte sie sich an die Anwesenden. „Ich bitte euch, ihr lieben Leute. Helft mir! Beschützt die Drachin!“
Ein Stallbursche war schließlich der erste, der sich aus der Menge löste, und die Hand des Jägers ergriff. Als wäre dies ein Signal gewesen, kamen weitere Menschen auf die Prinzessin zu: Ihre Zofe, eine Küchenmagd, ein Diener, die dicke Köchin, und noch viele andere.
Und so bildete sich bald ein schützender Wall aus Burgbewohnern zwischen Unari und den Soldaten und Rittern.
Immer mehr Menschen kamen auf die Wiese. Die Prinzessin erkannte auch viele Gesichter der Dorfbewohner. Alle schienen gleichzeitig zu reden. Der Lärm war ohrenbetäubend.
Irgendwann wurde mit Fanfaren und lauter Stimme der König angekündigt, die Menge teilte sich, und der Vater der Prinzessin trat durch die Lücke, flankiert von seinen Elitesoldaten. Als sein Blick auf die Drachin fiel, stutzte er, und hielt in seinem Schritt inne.
Die Menge verstummte allmählich, und die Prinzessin trat etwas zur Seite, so dass ihr Vater freien Blick auf den Kopf der Drachin hatte. „Vater, das ist Unari. Sie überbringt eine Botschaft vom König der Drachen.“
Unari sah ihn direkt an. „Ich grüße Euch, Majestät, und ich überbringe auch die Grüße meines Königs.“
Der Blick des Königs glitt von der Drachin zu seiner Tochter, die ihn mit einer Geste aufforderte, zu antworten.
„Nehmt auch meinen Gruß, ehrenwerte Botschafterin.“
Elisabietha atmete auf. Ihr Vater war ein intelligenter Mann, der die Besonderheit des Augenblicks erfasste. Und er verstand sich auf ausreichend Diplomatie, dass er auf das Gespräch einging.
„Nun hört die Nachricht, die ich zu überbringen habe, Majestät“, begann die Drachin. „Ich habe mit unseren Alten gesprochen. Sie haben mir von einer Prophezeiung berichtet, die von Generation zu Generation weitergegeben wird, und mir aufgetragen deren Wortlaut an Euch weiterzugeben.“ Unari legte eine kurze Pause ein, bevor sie weiter sprach. „Und es wird der Tag kommen, an dem Drachen und Menschen wieder miteinander sprechen werden. Und es werden zwei Kinder von königlichem Blut geboren werden - am gleichen Tage, zur selben Stunde. Und dann wird ein neues Zeitalter anbrechen - eine Zeit des Friedens. Die Menschen werden ihre Streitigkeiten beenden, und die Waffen niederlegen. Und Menschen und Drachen werden den uralten Bund neu schmieden.“
„Ich danke Euch“, brachte der König hervor.
„Und nun erlaubt mir, dass ich mich zurückziehe.“
„Gewährt“, antwortete Erkul.
„Prinzessin“, sagte Unari. „Die Menschen sollten etwas zurücktreten.“
Nachdem dies geschehen war, schwang sich die Drachin in die Lüfte, und war bald in der Ferne verschwunden.
Der König löste erst seinen Blick vom Horizont, als die Prinzessin seine Hand nahm.
„Deswegen hast du dich immer aus der Burg geschlichen?“
„Ja, Vater.“
„Warum hast du nicht davon erzählt?“
„Hättest du mir geglaubt?“
„Nein“, erwiderte er mit einem Seufzer. „Wahrscheinlich nicht. Aber jetzt komm. Ich muss meine Berater sprechen.“

Im Audienzsaal herrschte beträchtliche Aufregung, als die Prinzessin dort ankam. Ritter, Edelmänner, Hofdamen und Zofen waren anwesend, und alle schienen gleichzeitig zu reden. Zu allem Überfluss fiel eine der Edeldamen in Ohnmacht. Als sie zu Boden sank, wollten ihr zwei Männer gleichzeitig zu Hilfe eilen und in dem herrschenden Tumult stießen sie mit den Köpfen zusammen.
Es kehrte erst dann Ruhe ein, als sich der Haushofmeister mit energischer Stimme Gehör verschaffte.
„Meister Gaius“, sagte der König. „Ihr habt die Worte des Drachens vernommen. Was haltet Ihr von der Prophezeiung?“
„Unabhängig davon, wie diese Worte an uns herangetragen wurden, sollten wir über deren Bedeutung nachdenken.“
„Und dieses riesige Wesen? Ich kenne sie aus uralten Sagen, oder Geschichten, die ich als Kind gehört habe.“
Die Prinzessin gab Gaius das Buch, das sie sich geliehen hatte.
Der Gelehrte schlug die Seite auf, die die Abbildung eines Drachen aufwies, und zeigte sie dem König. „Majestät, vor Zeiten, die so lange zurückliegen, dass es kaum noch Aufzeichnungen darüber gibt, haben diese Wesen die Lüfte beherrscht.“
„Ihr wusstet also von deren Existenz?“
„In der Tat habe ich schon mit Menschen gesprochen, welche diese Wesen gesehen haben.“
„Wieso habt Ihr nie davon erzählt?“
„Weil ich niemals darauf angesprochen wurde, Majestät.“
„Hm, na gut.“
Die Prinzessin hatte eine Idee. Sie wies einem Diener an, den Jäger zu holen.
Nachdem Gaius seine Ausführungen beendet hatte, trat sie mit dem Jäger vor ihren Vater hin, und bat den Mann, seine Beobachtungen zu wiederholen.
„Ich danke dir, Jäger. Niemand wird jetzt noch an deinen Worten zweifeln. Du darfst wieder gehen.“ Dann wandte er sich an Gaius. „Es ist schwer, zu akzeptieren, dass die uralten Legenden wahr sind. Aber wir müssen uns nun damit abfinden. Und was die Aussage der Drachin angeht. Wie sagte sie? Zwei Kinder von königlichem Blut werden geboren - am gleichen Tage, zur selben Stunde. Es kann sich dabei wohl nur um Zwillinge handeln.“ Sein Blick ruhte auf seiner Tochter. „Deiner Hochzeit steht nun also nichts mehr im Wege.“
Für die Prinzessin schien die Welt unterzugehen. In all der Aufregung hatte sie daran gar nicht mehr gedacht.

Mit jedem Tag, den der Zeitpunkt der Vermählung näher kam, schwand die Hoffnung der Prinzessin mehr, noch in letzter Minute einen Ausweg zu finden.
Um sich von ihrem Unglück anzulenken, hatte sie Unari gerufen, und unternahm mit ihrer Freundin einen Ausflug, der sie weit von der elterlichen Burg wegbrachte. Hatte sie doch gehofft, dass die Drachin und die Entfernung zu ihrem Zuhause ihre Stimmung bessern würde, musste sie feststellen, dass ihre Schwermütigkeit diesmal nicht ihrer sonstigen Fröhlichkeit weichen wollte.
Elisabietha war in Gedanken versunken, und hatte nur wenig auf ihren Weg geachtet. So registrierte sie mit leichtem Erschrecken, dass sie gerade die finsteren Schlachtfelder überquerten.
„Unari, wo bringst du mich hin?“
„Ich dachte, ich hätte da etwas gehört. Ich muss näher heran, um sicher zu gehen.“
„Was denn? Was hast du gehört?“
„Vertrau mir einfach, Prinzessin.“

Sie ließen die weiten Flächen von Kornfeldern hinter sich, und flogen über ein Waldstück, das ein Weg der Länge nach durchzog. Die Sonne stand so, dass sich der mächtige Schatten der Drachin auf den Baumwipfeln abbildete, und so konnten sie die beiden Reiter, die dort unterwegs waren, unbemerkt passieren. Weiter vorne unterbrach eine Lichtung das Dach des Waldes, und dort ging Unari nieder.
„Sagst du mir nun, was das zu bedeuten hat?“, fragte die Prinzessin.
„Ich glaube, dass einer der beiden Menschen die Kopfstimme hat.“
„Aber es sind Feinde“
, warf die Prinzessin ein.
„Es sind Menschen, wie du. Hab keine Angst.“

Prinz Tarrabas von Agostina wollte dem ganzen Getümmel um die Vorbereitungen für seine Hochzeit zumindest für ein paar Stunden entfliehen. Er hatte lederne Jagdkleidung angelegt, und seinem Diener Max befohlen, die Pferde zu satteln. Bewaffnet mit einem doppelt geschwungenen Jagdbogen und Schwert, waren sie zur Jagd geritten. Vielleicht gelang es ihm, ein Tier zu erlegen, das einen saftigen Braten abgab.
Ohne zuerst ein bestimmtes Ziel vor Augen zu haben, war er in den Wald zu Falun geritten. Dort auf der weiten Lichtung hoffte er auf Wild zu treffen, das sich zum Äsen aus dem Unterholz hervorwagte.
Was er dann aber dort sah, war jedoch von solcher Ungewöhnlichkeit, dass er sein braves Pferd ungewollt so heftig zügelte, dass es protestierend schnaubend zum Stehen kam.
Der Leib des größten Tieres, das er jemals gesehen hatte, ruhte auf der Lichtung. Schuppen schimmerten wie Metall im Sonnenlicht. Ein muskulöser langer Hals trug einen mit Dornenfortsätzen bewehrten Kopf.
Und als wäre alleine die Anwesenheit dieses Tieres noch nicht ungewöhnlich genug, bemerkte er neben dessen mächtigen Schädel eine junge Frau, die im Vergleich zu dem gewaltigen Untier klein wie eine Puppe wirkte. Das Tier hatte den riesigen Kopf so weit herabgesenkt, dass er beinahe den Boden berührte. Aber dennoch reichte er der Frau, die neben ihm stand, fast bis zur Schulter. Eine Hand hatte sie auf das Haupt des Wesens gelegt.
Im Reflex zog er sein Schwert, und richtete die Klinge drohend erhoben in Richtung des Untiers.
„Achtet auf Euer Pferd, edler Herr“, sagte die Frau mit glockenheller Stimme. „Würde es nicht eine Gefahr verspüren, wenn sie von uns ausgeht? Bemerkt Ihr, dass es unruhig wird?“
Sprachlos vor Staunen glitt der Blick des Prinzen zwischen dem Tier und dem Mädchen hin und her.
„Majestät, was ist das?“, fragte sein Diener mit leiser Stimme.
„Das ist Unari, meine Freundin“, sagte das Mädchen. „Sie ist eine Drachin, ein denkendes, fühlendes Wesen - genauso wie Ihr.“
„Eure Freundin? Eine Drachin?“
„Nun steigt ab, edler Herr. Wir sind gekommen, um mit Euch zu sprechen.“ Dann wandte sie sich an die Drachin. „Ist er es?“
„Ja“, antwortete die Angesprochene. „Er ist es.“
Der Prinz steckte sein Schwert weg, glitt aus dem Sattel und warf die Zügel seinem Diener zu.
Mit einem unwohlen Gefühl im Magen machte er ein paar Schritte auf die Fremde zu. Aber wenn es gefährlich wäre, würde dann die Unbekannte wagen, dieses Tier zu berühren?
Drei Schritte vor dem Mädchen blieb er stehen.
Und nun wurde dem Prinzen klar, dass sie die bezauberndste junge Frau war, die er jemals gesehen hatte.
Mandelförmige Augen von der Farbe reinsten Quellwassers blickten ihn aus einem blassen Gesicht an, dessen Haut an feinstes Porzellan erinnerte. Eine Fülle an Locken von der Farbe der aufgehenden Sonne verlieh ihrem Antlitz die Schönheit eines Engels.
Mit einemmal bemerkte er, wie sich die Wangen der jungen Frau röteten, was sie noch viel hübscher aussehen ließ.
Und auch dem Prinzen stieg die Hitze ins Gesicht.
„Bitte erlaubt, dass ich mich vorstelle“, meinte der Adlige mit einer Verbeugung. „Prinz Tarrabas von Agostina.“
Die unbekannte Schöne sah ihn nur mit traurigen Augen an.“
„Warum seid Ihr so bekümmert?“, fragte er.
„Weil ich...“, setzte sie an. „Das geht Euch gar nichts an“, meinte sie schnippisch.
„Nun. Wenn Ihr es mir nicht verratet, dann kann ich Euch nicht helfen.“
„Niemand kann mir helfen. Nur mein Vater. Er ist an allem schuld.“
„Euer Vater?“
„König Erkul.“
„Ihr seid Prinzessin Elisabietha?“, erwiderte der Prinz mit Überraschung in seiner Stimme.
„Majestät, sie wäre eine sehr wertvolle Geisel!“, warf der Diener ein.
„Still. Misch dich da nicht ein“, wies der Prinz seinen Begleiter zurecht. Dann wandte er sich wieder an Elisabietha.
„Was hat Euch Euer Vater angetan?“
„Fragt mich lieber, was er mir antun wird.“
„Nun, denn. Was wird er Euch antun?“
„Er wird mich verheiraten.“
„Aber das ist doch ein wunderbares Ereignis im Leben einer jeden jungen Frau. Was stört Euch daran?“ Gleichzeitig dachte der Prinz an seine eigene bevorstehende Vermählung, die ihm ebenfalls Kopfzerbrechen bereitete.
„Ich mag ihn nicht. Am liebsten würde ich gar nicht heiraten - zumindest noch nicht. Aber es sind nur noch wenige Tage bis zu meinem achtzehnten Geburtstag.“
„Wie eigenartig. Auch ich werde bald den achtzehnten feiern.“
„Zur Sonnenwende?“
„Woher wisst Ihr das?“
„Weil ich selbst...“
„Mit dem ersten Hahnenschrei?“
„Mit dem ersten Hahnenschrei.“
Die Prinzessin wurde plötzlich sehr blass, und die Drachin gab ein gewaltiges Schnauben von sich, das den Königssohn erschrocken zurückweichen ließ.
„Hast du das gehört, Unari?“, fragte Elisabietha.
„Die Prophezeiung!“, sagte die Drachin. „Wir hatten sie falsch gedeutet!“
„Welche Prophezeiung?“, fragte der Prinz. Seine Neugierde war geweckt. Wenn die gewaltige Drachin, die sich bisher so ruhig verhalten hatte, derart darauf reagierte, dann musste die Tatsache ihrer gleichen Geburtsstunde eine hohe Bedeutung für sie haben.
„Prinzessin, hättet Ihr die Güte, mir zu erklären, worum es sich bei der Prophezeiung handelt?“
Und er hörte die ungewöhnlichste Geschichte seines Lebens.
„Dann liegt es nun an uns beiden, dass diese sinnlosen Kriege endlich beendet werden“, erkannte der Königssohn.
„Es muss ein Ende finden. Oder sollen sich auch zukünftige Generationen gegenseitig abschlachten, bis irgendwann der letzte Krieger Agostinas den letzten aus Iskandar erschlägt? Prinz, ich bitte Euch. Vertraut mir. Sprecht mit Niemandem über die Prophezeiung - vorerst nicht. Zuviel hängt davon ab. Erwartet mich in zwei Tagen bei Sonnenaufgang im Niemandsland, beim Turm.“
„Ich werde dort sein. Ich verspreche es. Bei meiner Ehre.“
Nach diesen Worten stieg die Prinzessin auf den Rücken der Drachin, und diese erhob sich mit Flügelschlagen in die Lüfte, die so mächtig waren, dass sie das Laub der umstehenden Bäume zum Rauschen brachten.
Max war neben ihn getreten und sah der Drachin mit offenem Mund nach.
„Träumen wir, Majestät?“, fragte der Diener, nachdem auf der Lichtung wieder Stille eingetreten war.
Der Prinz ging wortlos zu der Stelle hinüber, wo das Fabelwesen gesessen hatte, kniete nieder, und besah sich die Abdrücke im Boden.
„Majestät, habt Ihr schon jemals solche Spuren gesehen?“
Tarrabas schüttelte den Kopf. „Max, ich glaube es ist besser, wir behalten dieses Erlebnis bis auf weiteres für uns.“
„Glaubt Ihr die Geschichte von der Prophezeiung?“
„Heute Morgen hätte ich auch noch nicht geglaubt, dass es Drachen gibt.“

„Er hat dir gefallen“, sagte Unari.
In der Tat hatte der junge Mann das Interesse der Prinzessin geweckt. Sie erinnerte sich an die vielen Gespräche mit ihrer Mutter. Als kleines Mädchen wollte sie immer wissen, wo ihr Vater und all die vielen Männer hin ritten. In den Krieg, hatte ihre Mutter gesagt. Und was tun sie da, wollte sie wissen. Ihre Mutter hatte daraufhin sehr traurig gewirkt. Elisabietha erinnerte sich an ihren lieben Onkel Kunobert. Als kleines Mädchen hatte er sie oft in den Armen gewiegt. Sie zog dann immer an seinem riesigen Schnurrbart, und lachte über die Grimassen, die ihr Onkel dabei schnitt. Eines Tages kehrte er nicht mehr von den Schlachtfeldern zurück, und ihre Tante war viele Wochen lang sehr traurig. Da wurde Elisabietha klar, dass ein Krieg etwas Schreckliches sein musste. Erst als sie viel größer war, verstand sie, was ein Feldzug ist. Was ihr aber niemals klar wurde, das waren die Gründe, die zu den Auseinandersetzungen führten. Ihr Vater stellte die Männer von König Pelias immer als bösartig und kriegerisch dar. Ihm bliebe keine andere Möglichkeit, als sie mit Waffengewalt wieder zurückzutreiben, bevor sie seine Männer töteten, und Land und Burg einnahmen.
Nun hatte sie zum ersten Mal einen feindlichen Mann mit eigenen Augen gesehen. Und sie hatte nichts Bösartiges an ihm erkennen können.
„Ja. Er ist sehr hübsch. Und auch...“
„Was meinst du?“
„Vater meinte immer, alle Männer von König Pelias haben nur im Sinn, uns umzubringen.“
„Es gibt gute und böse Menschen - überall, in jedem Reich. Sicher auch bei dir in der Burg, oder im Dorf.“

Die Prinzessin musste nun an den Bäcker denken, der seine Gesellen häufig schlug - auch wenn sie nur eine Kleinigkeit falsch gemacht hatten. Andererseits gab es so warmherzige Menschen wie die dicke Köchin. Nicht nur ihr gewaltiger Leib war um vieles größer als der anderer Menschen, sondern auch ihr Herz. Schon als kleines Mädchen hatte sie die gutmütige Frau gemocht. Oft hatte sie sich in die Küche geschlichen, und unter der Bank versteckt, um die Leute und ihr emsiges Tun zu beobachten. Wenn die beleibte Frau sie entdeckte, gab es jedes Mal eine kleine Leckerei für sie.
Warum sollte es in einem fremden Königreich nicht auch so gutmütige Menschen geben?
Sie seufzte tief.
Wie gerne wäre sie nun bei dem jungen Prinzen gewesen. Seine dunklen Augen, der offene, ehrliche Blick, das markante Kinn. Es war ein schönes Gesicht. Seine Schultern waren rund und sein Brustkasten breit. Wie gerne hätte sie sich dagegen gelehnt, und seine starken Arme gespürt, die sie festhielten.

Zwei Tage später standen der Prinz und sein Diener am vereinbarten Treffpunkt. Die Kälte der Nacht hing noch in der frischen, vom Morgentau feuchten Luft.
Immer wieder hatte der Königssohn in Gedanken die Worte der Prophezeiung wiederholt und darüber nachgedacht.
Und über allen Überlegungen schwebte das engelhafte Antlitz der Prinzessin.
„Majestät!“
Die Stimme seines Dieners riss ihn aus seinen Gedanken. Er zeigte mit dem Arm nach Osten. Zwei Punkte waren dort in großer Höhe auszumachen. Als sie näher kamen, wurden sie als Drachen erkennbar. Sie flogen über das Areal hinweg - so tief, dass er auf einem Rücken die Prinzessin ausmachen konnte, die herunterwirkte. Dann wendeten sie in einer Schleife und setzen auf dem Boden auf.
„Zwei Drachen?“, sagte er zu sich selbst, und betrachtete voller Faszination das karmesinrote Wesen, das neben demjenigen der Prinzessin saß, und soeben seine Flügel zusammenfaltete.
Die Prinzessin kletterte vom Rücken Unaris und lief auf ihn zu. Ihre Wangen waren vor Aufregung gerötet.
„Ich grüße Euch, Prinz Tarrabas.“
„Nehmt auch meine Grüße, Prinzessin Elisabietha.“
„Ich habe mit dem Drachenkönig gesprochen. Prinz, er will uns beide sehen. Und er sagt, es sei von höchster Wichtigkeit.“
„Der König der Drachen?“
„Bitte glaubt mir. Deswegen müssen wir eine Reise antreten. Es geht nach Norden - weit nach Norden, noch hinter die Zahnberge. Ich habe alles eingepackt, was wir brauchen. Proviant, warme Kleidung, Decken.“
Tarrabas wies auf das rote Fabelwesen. „Verzeiht mir, Prinzessin. Soll das heißen, dass ich auf den Rücken dieses Drachen steigen soll?“
„Ja. Deswegen hat er den langen Weg zurückgelegt - um Euch abzuholen. Bitte kommt mit mir.“
„Majestät“, warf Max ein. „Das ist viel zu gefährlich. Wenn Euer Vater das erfährt, lässt er Euch einsperren.“
Tarrabas betrachtete den Drachen, der aus goldenen Augen zu ihm herübersah. Sein Herz schlug schneller bei dem Gedanken, sich mit dieser majestätischen Kreatur in die Lüfte zu erheben. Und auch der verlockende Gedanke mit der hübschen Prinzessin zusammen zu sein, ließ ihn schnell eine Entscheidung fällen.
„Nach Norden sagtet Ihr“, meinte der Prinz, und seine Augen wandten sich dort hin - zu den schneebedeckten Gipfeln der fernen Berge.
„Prinz, die Drachen werden auf uns Acht geben. Ich habe ihr Wort. Denkt an unsere Aufgabe.“ Mit flehenden Augen sah Elisabietha ihn an.
Der Prinz riss sich vom Anblick des hübschen Mädchens los, und wandte sich seinem Diener zu. „Max, reite zurück, und richte meinem Vater aus, dass ich auf einer diplomatischen Mission unterwegs bin.“
„Aber, Prinz. Ihre Majestät wird wissen wollen wohin. Und wie sollte das ohne Pferd möglich sein? Ihr wisst, wie misstrauisch Euer Vater sein kann. Er wird meinen Worten nicht glauben, wenn ich erzähle, dass Ihr mit einem Drachen weggeflogen seid.“
Tarrabas sah Elisabietha nachdenklich an.
„Vielleicht hilft dies“, sagte Unari, richtete sich ein Stück auf, und löste eine Schuppe von ihrem Körper. „Nimm das als Beweis, Max. Dann werden sie glauben.“
Der Diener hob die hornige Platte vom Boden auf und betrachtete sie ungläubig. „Eine Drachenschuppe. Es heißt, man kann daraus einen Panzer bauen, den kein Pfeil durchdringt.“
„Nun sieh zu, dass du meinen Vater benachrichtigst“, sagte der Prinz voller Ungeduld.
Mit klopfendem Herzen trat Tarrabas auf den wartenden Drachen zu. Die Prinzessin erklärte ihm, was zu tun ist, und er setzte sich in die Vertiefung zwischen den beiden Hornfortsätzen.
Nachdem Elisabietha auf den Rücken Unaris geklettert war, sahen sich die beiden Fabelwesen kurz an, dann entfalteten sie die Flügel, sprangen in die Luft, und hoben ab.
Niemals hätte Tarrabas gedacht, dass es ein so behebendes Gefühl sein kann, durch die Luft zu fliegen. Im Nu fiel die Ruinenstadt hinter ihnen zurück. Max stand noch immer dort mit den beiden Pferden und winkte zum Abschied.
Dann ging es hinunter zum Fluss. Hier begannen die Drachen zu kreisen, und wurden durch Aufwinde immer höher getragen, bis sie aus den Dunstschleiern herauskamen.
Der Prinz konnte die Schlachtfelder erkennen, Wälder und Wiesen, Getreidefelder und weit dahinter die Burg seines Vaters. Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder nach Norden, dorthin wo die Gipfel der Zahnberge so hoch aufragten, dass ihre Spitzen das ganze Jahr über mit Schnee bedeckt blieben.
Nun setzte wieder das langsame Auf und Ab der Flügel ein, und die Drachen nahmen Kurs auf die weit in der Ferne liegenden Berge.
Tarrabas war überrascht, wie rasch sie vorwärts kamen. Auch im gestreckten Galopp konnte kein Pferd jemals so schnell laufen. Er blickte nach unten und sah die Kronen der Bäume, die vereinzelt in den Sümpfen wuschen, die spiegelnden Wasserflächen, und die weiten Felder von Moorgras, Binsen, und anderen Pflanzen. Ein Vogelschwarm flog auf, als ein monströses Tier aus dem Unterholz brach.
Vereinzelt ragten gewaltige Felsformationen aus dem morastigen Wasser hervor. Manche waren so hoch, dass die Drachen um sie herumfliegen mussten. Die Öffnungen zu dunklen Höhlen gähnten den Prinzen an. Welche Tiere mochten sich wohl dort verbergen?
Aber schon war das Hindernis passiert, und Sumpfwälder breiteten sich unberührt vor ihnen aus.
„Ist es nicht herrlich?“, rief die Prinzessin.
In der Aufregung hatte er gar nicht mehr auf seine Begleiterin geachtet. Rechts von ihm flog die goldene Drachin mit ihrer kostbaren Fracht. Die langen Haare des Mädchens wehten im Wind.
Wenn er doch nur sie zur Frau nehmen könnte. Er wäre dann sicherlich der glücklichste Mensch im ganzen Königsreich.

Niemals hätte Tarrabas gedacht, dass sich die Sümpfe so weit nach Norden erstrecken würden. Die Sonne stand schon beinahe im Scheitelpunkt, als sich das Gelände unter ihnen langsam zu verändern begann. Immer öfter bildeten Bäume einzelne Gruppen, bis sich irgendwann ein geschlossenes Laubdach zeigte.
Die Drachen flogen nun langsamer und hielten auf einen Felskegel zu, der weit aus dem Blätterdach hervorragte. Auf dessen abgeflachten Gipfel gingen sie nieder, und Tarrabas stieg etwas steifbeinig vom Rücken des Fabelwesens.
„Und nun?“, fragte der Prinz.
Wie zur Antwort entfalteten die beiden Drachen ihre Flügel, und flogen davon.
„Sie müssen jagen“, erklärte Elisabietha.
Tarrabas sah sich um, wobei er an die wilden Tiere dachte, die dort unten hausten.
„Hier sind wir sicher, Prinz“, sagte die Prinzessin, als hätte sie seine Gedanken erraten.
„Ihr wart schon einmal an diesem Ort?“
„Ja. Nun kommt. Setzt Euch zu mir. Es ist noch ein weiter Weg, und auch wir sollten essen.“
Schweigend packten sie ihren Proviant aus.
„Warum greift Ihr uns an?“, fragte die Prinzessin nach einer Weile.
„Das tun wir nicht. Wir verteidigen uns lediglich. Ihr seid die Angreifer.“
„Das ist überhaupt nicht wahr. Ihr greift uns an.“
„Weil ihr in unser Land einfallt.“
„Warum sollten wir das tun?“, fragte Elisabietha. Ihre Stimme hatte einen gequälten Ausdruck angenommen, was dem Prinzen selbst schmerzte. Er wollte nicht, dass dieses zarte Geschöpf leidet - weder am Körper, noch an der Seele.
„Es ist nicht richtig, was da geschieht“, lenkte er ein.
„Diese Menschen müssten nicht sterben“, gab ihm die Prinzessin Recht.
„Ich habe mit meinen Magistern gesprochen, habe in alten Büchern und Schriftrollen nachgelesen. Niemand weiß, wie es zu den Auseinandersetzungen gekommen ist.“
„Warum beendet man sie dann nicht?“
„Mein Vater führt schon sein ganzes Leben lang Krieg gegen Euer Volk. Er ist vom Hass zerfressen. Er kann in Euch nichts anderes als einen Feind sehen.“
Tarrabas sah zu der Prinzessin hinüber, um in ihrem Gesicht zu lesen. Aber sie hatte den Kopf gesenkt, und ihre goldenen Locken verbargen den Großteil ihres hübschen Antlitzes.
„Dann liegt es also an uns...“, sagte sie.
„Ich wünschte, ich könnte dem Ganzen ein Ende bereiten.“

Bald darauf kamen die Drachen zurück.
Tarrabas und Elisabietha legten die warmen Pelzmäntel an.
Dann ging der Flug weiter in Richtung der Berge.
Wie still es hier oben ist, dachte der Prinz. Nicht der kleinste Laut dringt herauf. Nur das Rauschen der Schwingen und die liebliche Stimme der Prinzessin drangen an seine Ohren.
In vielen Spiralen schraubten sich die Drachen immer höher hinauf. Nun glaubte er das erste Mal deren Anstrengung zu vernehmen. Es wurde so kalt, wie es der Prinz noch nie zuvor erlebt hatte. Die weißen Gipfel schienen nun zum Greifen nahe. Der Prinz dachte schon, sie würden es nicht schaffen, aber schon waren sie darüber hinweg, und der Pass fiel hinter ihnen zurück.
Und vor sich sah er die bis an den Horizont reichenden Täler des Nebelgebirges. Dunst füllte die Bergeinschnitte, und er fragte sich, was sich dort unten wohl vor seinen Blicken verbergen mochte.
Die Drachen gingen nun tiefer, drehten etwas nach Osten ab, und wählten den Weg in ein Tal, das so breit war, dass er die gegenüberliegenden Felswände kaum mehr ausmachen konnte.
Ein anderer Drache tauchte aus dem Nebel auf und stieß einen lang gezogenen Laut aus, den sein Flugtier, und das der Prinzessin erwiderten. Der Dunst ließ nun merklich nach, und sie gelangten in einen Talkessel, dessen steil aufragende Wände mit einer Unzahl von dunklen Löchern überzogen waren.
Es müssen Höhleneingänge sein, überlegte der Prinz, und schon erschien ein weiterer Drache, der in einem der Einlässe verschwand.
Sie hielten auf eine der größten Pforten zu, und tauchten in das Halbdunkel der Höhle hinein.
Tarrabas fühlte sich nun unwohl. Seine Augen brauchten einige Zeit, um sich an die geänderten Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Die Drachen schienen aber keine Probleme damit zu haben, sich zu orientieren. Der Flug in die Höhle wollte nicht enden, und er dachte schon, sie würden den ganzen Bergrücken durchqueren. Irgendwann bemerkte er jedoch einen schwachen Schimmer, der von vorne in den Gang schien, dann wichen die Wände plötzlich zurück und erweiterten sich zu einer Höhle, deren gewaltige Größe mit einem einzigen Blick nicht zu erfassen war.
Von oben her fielen breite Lichtstrahlen ein. Und nun konnte Tarrabas die vielen Nischen und Vertiefungen erkennen, die die Wände überzogen.
Dort saßen andere Drachen in so großer Anzahl, dass er sich die Augen rieb, und beinahe den Halt verloren hätte.
Im Zentrum der Höhle ragte ein gewaltiger Felskegel hervor, und dort setzten nun die beiden Drachen auf.
Die Prinzessin kletterte vom Rücken ihrer Drachin, trat vor sie hin, und strich ihr über den Kopf.
Tarrabas folgte ihrem Beispiel. „Ich danke dir.“
„Gerne geschehen.“
Die beiden Drachen entfalteten die Flügel und ließen sich einfach in die Tiefe fallen. Er sah sie im Halbdunkel wieder auftauchen, und in zwei der Nischen verschwinden.
Er trat näher an den Rand der Plattform heran und spähte nach unten. Ihn schwindelte angesichts der finsteren Bodenlosigkeit, die sich vor ihm auftat, und er wich erschrocken zurück.
Erst jetzt vernahm der Prinz die Stimmen der anderen Drachen, die von den Höhlenwänden widerhallten. Es waren ihre Rufe, aber es erschien ihm auch, als würden sie sich über die Ankömmlinge unterhalten.
„Bitte folgt mir, Prinz“, sagte Elisabietha.
Es ging noch etwa zwei Manneslängen hinauf, dann konnte er die gesamte Fläche einsehen.
Zwei Drachen, die in etwa die Größe derer hatten, mit denen sie gereist waren, saßen dort. Sie waren von tiefschwarzer Farbe, und hatten goldene Augen. Und zwischen ihnen auf einem etwa mannshohen Podest ruhte ein weiterer Drache, der wohl deren König sein musste. Seine Schuppen waren von so heller Farbe, dass sie beinahe transparent wirkten.
Über ein paar Stufen gelangten sie hinauf und knieten nieder. Tarrabas senkte den Blick, und wartete darauf, angesprochen zu werden.
„Erhebt euch“, sagte die tiefe Stimme des Königs.
Der Prinz stand wieder auf, und betrachtete voll Neugier das majestätische Wesen. Am meisten beeindruckten ihn die Augen dieses Drachens, die so hell und klar erschienen wie flüssiges Silber. Er wirkte kräftiger als alle anderen seiner Art, die er bisher gesehen hatte. Die riesigen Tatzen mit den silbernen Krallen hatte er vor sich hingelegt, und die Augen bewegten sich zwischen ihm und der Prinzessin hin und her.
„Seid mir gegrüßt, ihr Besucher von königlichem Blut.“
„Es ist mir eine Ehre. Majestät.“
„Über viele Generation hinweg ist die Prophezeiung weitergegeben worden. Sollte sie sich nun erfüllen? Sollten wir irgendwann in die Sümpfe zurückkehren können? Wir waren sehr überrascht, als uns Unari die Nachricht von derselben Stunde Eurer Geburt überbrachte. Wir hatten die Weissagung in diesem Punkt falsch verstanden, und zuerst gedacht, dass wohl Prinzessin Elisabietha diejenige wäre, die die beiden Kinder gebären würde. Aber nun...“ Der König legte eine kurze Pause ein. „Nun bitte ich Euch beide mir zu erlauben, in Eurem Geist zu lesen. Ich muss absolute Gewissheit haben. Deswegen will ich es selbst sehen, die Erinnerung an die Stunde Eurer Geburt.“
Er sah Tarrabas direkt an, und dieser sagte. „Gerne gewähre ich Euch den Zugang zu meinem Geist.“
Auch die Prinzessin willigte ein.
Tarrabas fühlte nun trotz der Kälte, die in der riesigen Höhle herrschte, Schweißtropfen auf seiner Stirn. Wie würde die Prozedur wohl vor sich gehen? Er warf einen Blick zur Prinzessin, aber die lächelte ihm nur aufmunternd zu. Dann sah er wieder zu dem riesigen Drachen hoch, dessen Augen ihn nun fixierten. Er schien bis in die Tiefen seiner Seele zu sehen. Eine eigenartige Wirkung ging von diesem Blick aus. Was wäre nun, wenn der Drachenkönig in seinem Kopf lesen würde, wie er damals als Kind das Studierzimmer in Brand gesteckt hatte? Oder wie er den Pferch offen gelassen hatte, so dass alle Pferde davongelaufen sind. Oder der Streich...
„Es ist wahr“, unterbrach die Stimme des Königs seine Gedanken.
Verwirrt sah Tarrabas zu der Prinzessin hinüber.
„Unari wird Euch zu Eurem Nachtlager bringen. Ich danke Euch beiden.“
Tarrabas verbeugte sich und verließ mit der Prinzessin das Podest.
„Und nun?“, fragte er das Mädchen.
„Sie werden sich beraten.“
„Und was wird mit uns geschehen? Werden sie uns hier behalten?“
„Aber wie sollten wir dann für Frieden sorgen?“
„Das stimmt allerdings.“ Der Prinz ärgerte sich über seine Frage. Eigentlich hätte er selbst darauf kommen müssen.

Tarrabas erkundete die Felsnische, in die sie die Drachen gebracht hatten. Es war nur eine Vertiefung in der Wand der Höhle, die aber groß genug war, um ein Lager für ein Dutzend Männer samt ihrer Pferde aufzuschlagen.
Zwei einfache Lager aus Zweigen und einer Schicht Stroh waren hier errichtet. Sie legten Felle und Decken darüber und setzten sich nieder.
Aus der Ferne drangen die Rufe der Drachen zu ihnen.
„Mir ist kalt“, sagte Elisabietha, und schlang die Arme um ihren Leib.
„Ich könnte ein Feuer machen“, schlug der Prinz vor.
„Nein. Das dürft Ihr nicht. Sie mögen es nicht.“
„Mein Vater hat mir beigebracht, wie man auch unter den schwierigsten Umständen überleben kann. Wir könnten uns gegenseitig wärmen.“
„Das wäre ein Verstoß gegen die Etikette“.
„Wir sind weit von zuhause weg, Prinzessin. Niemand würde davon erfahren.“
„Ich weiß nicht so recht…“
„Dann nehmt meinen Mantel. Bitte.“
„Aber dann werdet Ihr selbst frieren.“
Sie sorgt sich um mich, obwohl sie mich kaum kennt, dachte Tarrabas. Er legte das wärmende Kleidungsstück ab. „Nehmt ihn zumindest so lange, bis Euch wieder warm ist.“ Da sie nicht widersprach, legte er den Mantel um ihre schmalen Schultern, und setzte sich ihr gegenüber wieder auf sein Lager.
„Wären alle Männer Agostinas so wie Ihr, gäbe es keinen Krieg“, flüsterte die Prinzessin.
„Schlaft jetzt“, erwiderte der Prinz ausweichend, und beobachtete, wie sich die junge Frau auf ihrem Lager ausstreckte.
Schweigend saß er da und hing seinen Gedanken nach.
Inzwischen war es so finster geworden, dass er Elisabietha nur noch schemenhaft ausmachen konnte. An ihren regelmäßigen Atemzügen erkannte er, dass sie eingeschlummert war. Er beschloss, sich selbst schlafen zu legen. Der Tag war lang und aufregend gewesen. Er war schon weit vor Sonnenaufgang aufgestanden, um rechtzeitig die Ruinenstadt zu erreichen. Auch die Nacht vorher hatte er nur wenig Ruhe gefunden, und nun verlangte es ihn nach Ruhe. Er verwendete das grobwollene dicke Tuch, das er auf seinem Lager ausgebreitet hatte, als Zudecke, und schloss seufzend die Augen.

Als Tarrabas am nächsten Morgen die Augen öffnete, begrüßte ihn Elisabietha mit einem Lächeln.
Er erwiderte ihre Freundlichkeit mit einem Scherz: „Die erste Nacht, die ich mit einer Prinzessin verbringe, habe ich mir anders vorgestellt.“
Sie lachte hell auf, erhob sich von ihrem Lager, und ließ sich vor seinem nieder.
Noch nie war er der Prinzessin so nah gewesen. Ihre Pupillen waren schwarz wie die Oberfläche eines tiefen Waldsees bei Nacht.
Sie hob eine Hand, strich ihm über die Wange. Er fühlte die weiche Wärme ihrer zierlichen Finger, und seine Haut begann dort zu prickeln, wo sie ihn berührte.
Kaum hörbar flüsterte er: „Als ich Euch dort auf der Lichtung gesehen habe, da habe ich mein Herz an Euch verloren.“
Elisabietha senkte die Lider, und er hob eine Hand, um die zarte Blässe ihrer Wangen zu berühren.
Ein plötzlicher Windstoss ließ ihn aufschrecken. Die Höhle hatte sich verdunkelt, und ein mächtiger Schatten füllte den Eingang aus, der nun seine Flügel zusammenfaltete.
„Unari“, rief die Prinzessin voller Freude und sprang auf, um ihre Freundin zu begrüßen.
„Prinzessin, ich bringe Neuigkeiten für den Prinzen“, sagte die Drachin.
Tarrabas trat neben Elisabietha und sah Unari an. „Bitte, sprich.“
„Wir haben lange beraten - bis tief in die Nacht. Wir sind sicher, dass die Prophezeiung ihren Anfang genommen hat. Die Drachen wollen Euch nun prüfen, und die Wahl treffen.“
„Prüfen? Mich? Ich verstehe nicht, worauf.“
„Unser König hat bestimmt, dass Ihr ein Drachenreiter werdet.“
„Aber das ist ja wunderbar“, sagte die Prinzessin.
„Es ist ein Bündnis fürs Leben“, erklärte Unari. „Hat ein Drache einmal die Wahl getroffen, und Ihr willigt ein, seid Ihr für immer mit ihm verbunden - bis in den Tod. Er wird sein Leben für Eures geben, aber er fordert die gleiche Leistung von Euch.“
„Die gleiche Leistung? Aber wie könnte ich ein so mächtiges Geschöpf wie einen Drachen beschützen?“
„Das wird derjenige, der Euch wählt, nur Euch selbst anvertrauen.“
Der Prinz dachte an den Flug zurück, wie sie hierher gelangt waren, und versuchte sich vorzustellen, welchen Eindruck es auf seinen Vater machen würde, wenn er mit einem so mächtigen Freund neben der Burg landet. Auch würde es kein Feind wagen, sein Land anzugreifen, wenn ihm ein gewaltiger Drache gegenüber steht.
„Seid Ihr bereit, die Prüfung anzutreten?“, fragte Unari den Prinzen.
„Ja. Ich bin bereit“, sagte Tarrabas und sein Körper straffte sich.
„In etwa einer Stunde werdet Ihr abgeholt. Bereitet Euch auf die Rückreise vor. Wir werden noch heute zurückfliegen.“
Die Drachin sprang in die Tiefe und verschwand in der dämmrigen Tiefe der Höhle.

In den Tiefen der Drachenhöhle entstand nun Unruhe. Immer mehr der Fabelwesen zogen mit rauschenden Schwingen an der Höhlung vorbei. Tarrabas trat noch näher an den Rand der Öffnung heran uns sah hinaus. Alle Drachen schienen ihre Schlafstellen zu verlassen, und bildeten eine immer dichter werdende Schar, die an der Peripherie der Höhle entlang ihre Runden drehte.
Als er eines der Wesen auf sich zukommen sah, trat er ein paar Schritte zurück. Es war der Drache, der ihn von der Ruinenstadt abgeholt hatte.
„Kommt mit mir, Hoheit. Eure Prüfung beginnt.“
„Und die Prinzessin?“, warf er ein.
„Sie wird hier bleiben. Die Prüfung müsst Ihr alleine antreten. Ein zweiter Geist in unmittelbarer Nähe würde den Prozess der Findung stören.“
Mit klopfendem Herzen stieg der Prinz auf den Rücken des Drachens.
Das Fabelwesen reihte sich in die Menge der kreisenden Drachen ein. Mehrmals umrundete er den zentralen Felskegel, auf dem der weiße Drache saß. Dann gab er mehrere kurze Rufe von sich, und flog auf einen Tunnel zu, der dem ähnelte, durch den sie gestern in die Höhle gelangt waren. Erneut wurde es finster um ihn. Er hörte lediglich den Widerhall der Flügelbewegungen des Drachen. Dann drang von vorne her der erste Schimmer Sonnenlicht in den Schacht, und sie gelangten ins Freie hinaus.
Geblendet schloss der Prinz für einen Moment die Augen, schirmte sie mit einer Hand ab, und blinzelte dann gegen das Tageslicht.
Der Drache trug ihn weit hinauf zum höchsten Punkt des Bergrückens und setzte dort auf.
„Ihr müsst nun hier warten, Prinz.“
Ohne weitere Erklärungen abzugeben, flog das Fabelwesen wieder davon.
Der Prinz folgte mit den Augen dem Flug des majestätischen Wesens. Es stieß ein lautes Brüllen aus, kehrte in weitem Bogen zurück, rauschte über den Prinzen hinweg, und ließ sich weiter oben auf einem Felsbrocken nieder.
Wie still es hier war. Das Rauschen des Windes, und seine Atmen waren die einzigen Geräusche. Dichter Nebel füllte die Täler, so weit er sehen konnte. Bergrücken und andere Gipfel erhoben sich aus dem Dunst. Die Felsen waren schwarz und fleckig vom Alter. Es gab keinen Bewuchs, nur ein paar spärliche Gräser, die sich in den Ritzen festsetzten. Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel herab, aber ihre Strahlen waren nur schwach. Fröstelnd zog er den warmen Mantel enger um sich.
Was würde nun geschehen? Was sollte er tun? Was, wenn er sich falsch verhielt? Würde er dann kein Drachenreiter werden? Und wenn sich keines der Fabelwesen für ihn entschied, was dann?
Und dann kamen die anderen Drachen. Es schien, als würde sie der Berg aus unzähligen Öffnungen gleichzeitig ausspeien. Sie stiegen höher und vereinigten sich zu einer dichten Wolke, die auf den nächsten Berg zuhielt. Dort kam wieder Ordnung in ihre Formation, und sie begannen, um den Gipfel zu kreisen.
Der Prinz beobachtete, wie sich zuerst nur einzelne Drachen, und nach und nach immer mehr aus dem Kreis lösten, und lautlos über das tiefe Tal hinweg auf seine Position zu glitten. Er bemerkte, dass sie alle zu ihm heruntersahen. Sie überquerten seinen Standpunkt, und flogen in einer weiten Schleife zurück zu den anderen Drachen. Er sah dunkelgrüne, braune, und beinahe schwarze Körper.
Immer mehr der Fabelwesen strichen über ihn hinweg, und er wunderte sich über die Anzahl. Nie hätte er gedacht, dass die Höhle so viele von ihnen birgt. Irgendwann aber ließ der Ansturm nach, bis zuletzt nur ein einzelner Drache auf ihn zuflog. Er war von tiefschwarzer Farbe, und kam so weit herab, dass der Prinz deutlich seine feuerroten Augen sehen konnte. Die Beine mit den gefährlichen Klauen hatte er dicht an den Körper angelegt. Der Prinz blickte ihm nach und bemerkte, dass er nicht zum Gipfel zurückkehrte, sondern in einer weiten Schleife wendete, und sich dann beinahe senkrecht in den Himmel schraubte. Als er so hoch gestiegen war, dass er klein wie eine Taube erschien, warf er sich in der Luft herum, legte die Flügel an und stürzte kopfüber wie ein Stein herab. Wiederholt drehte er sich dabei schlangengleich um seine Längsachse, und als Tarrabas schon befürchtete, der Drache würde auf den Felsen zerschellen, breitete er seine Schwingen aus, der freie Fall ging in einer mörderischen Kurve in einen waagrechten Flug über. Mit hoher Geschwindigkeit flog er auf den Prinzen zu, so tief, dass Tarrabas schon befürchtete, er wolle ihn vom Felsen fegen. War dies womöglich ein Teil seiner Prüfung, um seinen Mut zu testen? Mit klopfendem Herzen blieb er aufrecht stehen, und sah dem Wesen entgegen.
Als ihn der Drache passierte, warf ihn der Luftdruck beinahe um. Der Wind zerrte an seinen Haaren und Mantel. Erneut wendete das Fabelwesen, kam zurück und ging mit ein paar Schlägen seiner ledernen Schwingen etwa ein Dutzend Schritte neben ihm nieder.
Etwas war anders an diesem Drachen. Er war nicht nach der gleitenden Art eines Vogels gelandet, sondern mit dem Flügelschlag einer Fledermaus, die ihn kurz bevor er den Boden berührte beinahe auf der Stelle verweilen ließ.
Der Prinz betrachtete voller Ehrfurcht das mächtige Fabelwesen, das ihn nun aus feuerroten Augen ansah. Die Schultern waren breiter als bei allen anderen Drachen, die Tarrabas gesehen hatte. Mächtige Muskeln schwollen unter dem tiefschwarzen Schuppenpanzer. Beine, Klauen und Krallen wirkten so kräftig, als könnten sie mit einem einzigen Hieb einen Baumstamm zertrümmern.
Ein Schauer lief über den Rücken des Prinzen, und seine Kopfhaut begann zu prickeln. Nie zuvor hatte er ein Lebewesen gesehen, das Kraft und Eleganz in so vollendeter Form in sich vereinte.
„Ich bin Zarn“, sagte der Drache mit tiefer Stimme. „Prinz Tarrabas, ich habe meine Wahl getroffen. Nun will ich Eure Antwort hören. Willigt Ihr in das Bündnis ein?“
„Ja“, antwortete der Prinz mit lauter Stimme, aus der sein ganzer Stolz klang. „Ja. Ich willige ein.“
„Ehre, Mut und Vertrauen - bis in den Tod.“
„Ehre, Mut und Vertrauen - bis in den Tod“, wiederholte der Prinz.
Der schwarze Drache richtete sich nun auf die Hinterbeine auf, und breitete seine mächtigen Schwingen aus. Hoch wie ein Wehrturm ragte er vor Tarrabas auf, und seine Flügel füllten den ganzen Blickwinkel des Prinzen aus. Tarrabas sah, dass sich die ledernen Flügel über Knochen spannten, die so stark wie Baumstämme waren, und armdicke Adern, welche die Flughäute durchzogen. Das Fabelwesen reckte den Hals senkrecht nach oben, riss das Maul auf und gab ein markerschütterndes Gebrüll von sich, das dem Prinzen einen Schauder der Ehrfurcht über den Rücken trieb.
Der Widerhall des Gebrülls wurde von den fernen Bergen zurückgeworfen.
Der Drache verweilte eine Zeitlang in dieser Position, und nun fielen alle anderen mit ihren Stimmen ein. Als die Rufe der Fabelwesen verstummten, und das Echo zwischen den Bergen verhallte, ließ sich der Drache wieder auf alle Viere nieder.
Der Reigen um den nahe gelegenen Gipfel begann sich aufzulösen, und die Schar der Fabelwesen glitt herüber, und ließ sich rund um den Prinzen und den schwarzen Drachen nieder.
„Der erste gemeinsame Flug besiegelt den Bund“, sagte Zarn.

Kurze Zeit später standen Tarrabas und Elisabietha erneut vor dem weißen Drachen.
Das Oberhaupt sah den Prinzen an und sagte: „Es erfüllt mein Herz mit Freude, wenn ich sehe, dass seit unermesslichen Zeiten nun zum zweiten Mal in so kurzer Zeit der Bund zwischen einem Menschen und einem Dachen geschlossen wurde. Möge dies ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Wege zur Erfüllung der Prophezeiung sein.“
„Es ist an mir, zu danken, Majestät“, sagte der Prinz mit feierlicher Stimme. „Ich betrachte es als außerordentliche Ehre und Auszeichnung zugleich, der Verbündete eines so majestätischen Wesens zu sein, eines Geschöpfes voller Schönheit und Kraft.“
„Ich bin mir nun sicher, dass wir die richtige Wahl getroffen haben. Kehrt jetzt zurück zu Euresgleichen, und tut alles was in Eurer Macht steht, um den Frieden unter die Menschen zu bringen. Wir wollen wieder in unsere ursprüngliche Heimat zurückkehren. All unsere Hoffnung liegt nun auf Euch. Unari und Zarn werden Euch beschützen und bei Euren Aufgaben helfen, wo immer dies möglich ist. Und Ihr seid beim Volk der Drachen immer willkommen.“
Und damit verabschiedeten sich die jungen Königskinder, um ihre lange Rückreise anzutreten.

Unari und Zarn wandten sich nach Südwesten, flogen das lange Tal entlang, durch das sie am Vortag hierher gelangt waren. Zu Elisabiethas Überraschung verlangsamten die Drachen aber ihren Flug und steuerten eine Stelle an einer steil abfallenden Felswand an, in der sich eine gewaltige Höhlenöffnung auftat.
„Unari, was hat das zu bedeuten?“
„Der König gab mir den Auftrag, dich zu einer bestimmten Stelle zu bringen.“
Die Drachen flogen in die Kaverne ein und landeten auf einer steinernen Plattform, die gegenüber dem Eingang in großer Höhe lag.
„Es muss hier eine Steinplatte mit einer Aufschrift geben“, erklärte Unari. „Wir können die Zeichen nicht deuten, aber sie hat dennoch für uns eine tiefe Bedeutung.“
„Unari, kannst du das nicht etwas näher erklären?“
„Es heißt, dass der letzte Mensch, der bei den Drachen gelebt hat, dort sein Erbe hinterlassen hat.“
Elisabietha sah Unari ungläubig an.
„Ein Mensch hat bei euch gelebt?“
„Ja. Aber das ist so lange her, dass die Überlieferung nur äußerst vage ist. Mein König befahl mir, dir diese Stelle zu zeigen. Womöglich ist das Erbe für euch beide von Interesse.“
Gemeinsam suchten sie das Plateau ab, räumten Schutt und Sand beiseite. Die Prinzessin wollte schon beinahe die Hoffnung aufgeben, als Tarrabas einen überraschten Ruf ausstieß.
„Hier! Eine rechteckige Steinplatte.“
Die Prinzessin eilte zu dem Prinzen hinüber, der sich über eine Stelle vor der Rückwand der Höhle beugte. Er wischte die Ablagerungen beiseite, die Jahrhunderte dort hinterlassen hatten.
„Drei Zeichen“, sagte er. „Es ist eine sehr alte Schrift. Wenn ich sie richtig deute, dann heißt das 381.“
„381?“
„Wenn das eine Jahreszahl ist, dann...“
„Prinz“, unterbrach Zarn. „Ihr solltet Euch beeilen. Ein Schneesturm kommt auf. Ich rieche es.“
„Wir werden uns beeilen“, sagte Tarrabas, und wischte den Schutt um die Steinplatte herum beiseite. Dann zog er sein Messer, und führte es in den Spalt zwischen Platte und Boden ein. „Darunter scheint ein Hohlraum zu sein.“ Aus Leibeskräften zerrte er an dem Stein, und es gelang ihm, diesen so weit zu verschieben, dass er mit einer Hand in die Höhlung greifen konnte.
„Majestät, es eilt nun wirklich“, drängte jetzt auch Unari.
Der Prinz zwängte seinen Arm in die Öffnung, und holte unter Mühen ein flaches Bündel hervor, das er Elisabietha reichte. Sie verstaute es sofort in ihrem Bündel, und beobachtete den Prinzen dabei, wie er erneut den Arm in die Öffnung steckte.
„Das war es. Dort ist nichts mehr.“
„Nun kommt. Wir müssen weg.“
Sie stiegen auf die Drachen, die sofort abhoben und aus der Höhle glitten.
Schneeflocken wurden den beiden Reitern entgegen getrieben, und stachen wie spitze Nadeln in ihre Haut.
Elisabietha glaubte, die Kälte nicht ertragen zu können. Trotz der dicken Handschuhe wurden ihre Finger klamm und gefühllos, so dass sie schon befürchtete, sie könne sich nicht mehr ab den Dornenfortsätzen festhalten. Sie presste die Lippen aufeinander, und neigte den Kopf, damit ihr der eisige Fahrtwind weniger anhaben konnte. Langsam kroch die Kälte von den Händen und Füßen weiter auf den Körper zu. Die Prinzessin spürte die Bewegungen der Drachin unter ihr, die sich gegen den immer stärker werdenden Wind anstemmte. Unermüdlich hob und senkte sie ihre Schwingen.
Endlos erschien ihr die Zeit, bis sich der Flügelschlag veränderte, und Unari in einen Kräfte schonenden Gleitflug überging. Die Prinzessin hob den Kopf und sah zu ihrer Überraschung die grünen Wipfel der Bäume unter sich.
Unaris Rücken war an einigen Stellen dick mit Eis und Schnee überzogen.
„Unari, ist alles in Ordnung?“, entfuhr es Elisabietha voller Fürsorge um ihre Freundin.
„Ja“, kam die Antwort. „Ich glaube, wir können Kälte besser ertragen als die Menschen. Aber ich weiß nicht, wo Zarn ist. Ich habe ihn im Sturm verloren.“
Ein eisiger Schrecken durchfuhr die Prinzessin, und sie schaute sich um, ob sie den Drachen irgendwo erkennen konnte.
Aber Zarn war nirgends zu sehen. Hinter sich sah sie nur die weißen Gipfel der Berge, und dahinter türmten sich schwarze Wolken.
„Unari, wir müssen sie suchen.“
„Elisabietha. Ich werde dich zum Tafelberg bringen. Und dann müssen wir abwarten, bis sich der Sturm gelegt hat.“
„Aber wir können sie doch nicht im Stich lassen.“
„Zarn kennt den Weg. Auch er wird den Gipfel aufsuchen.“
„Aber...“

Unari unterbrach sie. „Es hilft ihnen nicht, wenn auch wir uns im Schneesturm verirren.“
Elisabietha schwieg, während die Drachin immer weiter in tiefere Schichten hinab glitt. Die ersten wärmenden Strömungen ließen allmählich Schnee und Eis schmelzen.
Weit voraus hob sich ihr Ziel über das Dach des dampfenden Dschungels hervor, und bald darauf ließ sich Unari mitsamt ihre kostbaren Fracht dort nieder.
Die Prinzessin glitt vom Hals des Drachen, und stürzte auf den Boden. Ihre Beine gehorchten ihr noch nicht richtig.
Nach einer Weile gelang es ihr, wieder aufzustehen, und sie ging nach vorne, um Unari in die Augen sehen zu können.
Sie erschrak beim Anblick der Drachin. „Unari, ist mit dir alles in Ordnung?“
Ihre Augen wirkten trübe, als hätten sich dort Eis uns Schnee für immer festgesetzt.
„Es dauert eine Weile. Ich muss nur etwas ruhen“, sagte die Drachin und schloss die Augen.
„Kann ich irgendetwas für dich tun?“, fragte die Prinzessin, und legte beide Hände liebevoll auf die Augenwülste der Drachin.
„Wärme“, erwiderte Unari.
Die junge Frau nahm ihr Bündel vom Rücken, löste in fieberhafter Eile die Schnüre, und zog die warmen Decken hervor. Diese legte sie über Unaris Kopf und schmiegte sich gegen ihre Freundin.
„Ich bitte Euch, Ihr allmächtigen Götter. Nicht oft wende ich meine Stimme an Euch. Aber jetzt bitte ich Euch, helft diesem liebenswerten Geschöpf.“
Es tat Elisabietha weh, ihre Freundin leiden zu sehen, ohne ihr helfen zu können. Vor der mächtigen Drachin sank sie zu Boden und barg ihr Gesicht in ihren Händen. Tränen strömten darunter hervor.

Als die Prinzessin wieder aufwachte, kitzelte sie ein Sonnenstrahl an der Nase, und sie musste heftig niesen. Sie öffnete die Augen und blinzelte gegen die Helligkeit an. Verschwommen sah sie ein Gesicht über sich. Nach ein paar Augenblicken klärte sich ihre Sicht, und sie erkannte, wer sie anlächelte.
„Tarrabas“, rief sie voll Freunde, sprang auf und fiel ihm um den Hals.
Der Prinz merkte, wie sie sich an ihn drückte. Sprachlos vor Überraschung legte er seine Arme um sie, spürte ihren zerbrechlichen Körper und die Wärme ihrer Nähe.
Und in diesem Augenblick fasste er den Entschluss die Prinzessin zur Frau zu nehmen, koste es, was es wolle.
„Wo warst du denn?“, fragte die Prinzessin, ohne daran zu denken, dass sie die vertrauliche Anrede verwendete.
„Das Schneetreiben wurde immer dichter. Wir verloren euch, und Zarn meinte, es wäre besser, in einer Höhle das schlimmste Unwetter abzuwarten. Dann sind wir weitergeflogen. Und ich habe dich hier schlafend vorgefunden.“
„Unari“, rief Elisabietha und löste sich aus den Armen des Prinzen.
Sie lief zu ihrer Freundin hinüber, die das ganze Geschehen beobachtet hatte. Die Decken und Tücher waren abgefallen, und ihre Augen hatten beinahe den alten Glanz wieder gefunden.
„Elisabietha“, sagte die Drachin. „Wir sollten heute nicht mehr weiterfliegen. Sieh nur, wie tief die Sonne schon steht.“
„Wir haben zuviel Zeit verloren“, stimmte auch Tarrabas zu, der neben sie getreten war.
Unari richtete sich auf. „Ich werde jetzt jagen. Zarn wird mit mir kommen.“
Das Königskinderpaar sah zu, wie die majestätischen Wesen in der Ferne verschwanden. Dann setzten sie sich nieder, um ebenfalls zu essen.
Nach dem Mahl nahm die Prinzessin das rätselhafte Bündel aus ihrem Gepäck und musterte es nachdenklich. „Was mag das nur sein?“
„Wenn sich jemand die Mühe gemacht hat, es unter einer schweren Steinplatte zu verstecken, dann muss es sehr wichtig sein.“
„Oder wertvoll.“
„Oder das“, bestätigte Tarrabas.
Die Prinzessin versuchte, die Schnüre zu lösen, die das Bündel zusammenhielten, aber sie zerfielen unter ihren Händen zu Fasern.
„Prinzessin, darf ich?“
Er nahm den Packen, legte ihn auf den Boden und faltete vorsichtig das umhüllende Leder auf. Darunter kam eine weitere Schicht aus dem gleichen Material zum Vorschein.
„Wer das versteckt hat, der hat sich die größte Mühe gegeben, damit es Jahrhunderte überdauert“, meinte Tarrabas mit ehrfurchtsvoller Stimme.
Noch drei Lagen von gewachstem Papier schützten den geheimnisvollen Inhalt, dann hielt er endlich in Händen, was vor so langer Zeit dort oben im Nebelgebirge abgelegt worden war.
„Ein Buch“, stellte er voller Erstauen fest.
Es war in feines Leder eingebunden. Die Ecken hatte man mit kleinen Metallkappen geschützt.
Aus einem Grund, der ihnen selbst nicht klar war, zögerten sie, den Einband aufzuschlagen.
Der Prinz schlug den Buchdeckel auf, und überblätterte die erste Seite, die leer war.
„Ein Bild“, meinte Elisabietha mit leiser Stimme.
Die Seite zeigte eine Frau, die ein Kind in den Armen hielt, ein langer Zopf hing über ihre Schulter. Die Zeichnung war mit vielen Details versehen, und wirkte so lebensecht, dass Elisabietha vor Ehrfurcht den Atem anhielt. Der Zeichner musste ein wahrer Künstler gewesen sein.
„Wer sie wohl gewesen ist?“, fragte Tarrabas.
„Sie muss ihm viel bedeutet haben, wenn er sie als erste gezeichnet hat.“
Tarrabas nickte und blätterte um. Es folgte ein Ritter in einer Rüstung, dessen Brust die Zeichnung eines Drachens zierte, ein Mann mit vom Alter zerfurchtem Gesicht, noch viele andere Menschen, dann eine Burg, bei deren Anblick die Prinzessin einen überraschten Laut von sich gab.
„Der Turm. Ich erkenne seine Form. Es ist der aus der Ruinenstadt.“
Tarrabas betrachtete mit Kennerblick das Abbild der Festungsanlage. Die Mauern waren massiver, als die der Burg seines Vaters. Die ganze Anlage wirkte stolz, zeigte vom Können ihres Baumeisters, und schien für die Ewigkeit gebaut.
„Ich wünschte, ich könnte von so einer Burg aus regieren. Kein Feind würde es wagen, gegen diese starken Mauern anzurennen. Und auf den obersten Zinnen würde Zarn sitzen, und seine gewaltigen Flügel ausbreiten.“
Es folgten noch viele Seiten, die Einzelheiten der Burg und der alten Stadt zeigten.
Die letzte Zeichnung war nicht fertig gestellt worden, und die nächsten Seiten überzogen lange Zeilen, die in großer Eile hingeschrieben schienen.
„Was steht dort?“, fragte die Prinzessin.
„Ich kann es nicht lesen. Solche Schriftzeichen habe ich noch nie gesehen. Vielleicht ist es auch eine Art von Geheimschrift.“
Der Prinz schlug das Buch wieder zu, und legte voll Ehrfurcht eine Handfläche auf den Einband.
„Gaius könnte es vielleicht übersetzen“, sagte Elisabietha.
„Gaius?“
„Unser Gelehrter. Er ist der klügste Mann, den ich kenne. Er wusste sogar, dass es Drachen gibt.“
„Wir haben auch einen Gelehrten. Giorgio ist sein Name.“

Am nächsten Morgen brachen sie in Richtung Agostina auf. Unari schien wieder völlig genesen zu sein. Sie sagte, sie hätte bei den heißen Quellen ein Sumpfbad genommen, was ihre Leiden hat nahezu verschwinden lassen.
Noch bevor die Sonne ihren höchsten Stand erreichte, sahen sie die Burg in der Ferne auftauchen. Wimpel und Fahnen flatterten im Wind. Auf dem Weg, der zum breiten Haupttor führte, waren Reiter, Wagen und Menschen zu Fuß unterwegs.
In Rufweite von der Burg entfernt gingen die beiden Drachen auf einer blühenden Wiese nieder. Schon bald ertönen aus der Richtung des Bollwerks die ersten Hörner. Man hatte sie bemerkt, und schlug Alarm.
Die Prinzessin hatte davon erzählt, wie die Leute auf den Anblick Unaris reagiert hatten, und sie wollten vermeiden, dass es zu Konflikten kam, bei denen womöglich Menschen verletzt wurden.
Tarrabas und Elisabietha warteten, bis die ersten Reiter näher kamen, und als sie sicher waren, dass die Männer den Prinzen erkannt hatten, stiegen sie von den Rücken ihrer Verbündeten, traten beiseite, und beobachteten, wie sie aufstiegen.
Die Männer zügelten die Pferde und sahen noch, wie die beiden majestätischen Wesen über den Wipfeln der Bäume des nahegelegenen Waldes verschwanden.
Ein Reiter mit reich verzierter Kleidung kam näher, stieg aus dem Sattel und verbeugte sich vor Tarrabas.
„Majestät, ich grüße Euch. Ihr wurdet vermisst.“
„Nehmt ebenfalls meinen Gruß“, erwiderte der Prinz. „Hat mein Diener keine Nachricht überbracht?“
„Doch, das hat er, Prinz Tarrabas. Aber Euer Vater hat seinen Worten keinen Glauben geschenkt, und ihn in den Kerker werfen lassen.“
„Sorgt dafür, dass er sofort frei kommt.“
„Sehr wohl, Majestät.“
„Und wir benötigen zwei Pferde.“
Der Mann warf der Begleiterin des Prinzen einen fragenden Blick zu, rief einen Befehl, worauf zwei andere abstiegen, und ihnen die Zügel ihrer Reittiere reichten.
Wie gerne hätte Tarrabas seinen Vater vom Rücken des Drachen aus begrüßt, aber das durfte wohl erst ein andermal geschehen. Sicherlich hatten von den Wehrgängen aus genügend Menschen ihre Ankunft beobachtet, die seine Worte bestätigen würden.

Im Thronsaal traf Tarrabas auf seinen Vater, der ihn umarmte und an seine Brust drückte.
„Mein Sohn, wo warst du nur? Wir haben uns Sorgen um dich gemacht.“
„Vater, bevor ich berichte, möchte ich dir die edle Dame vorstellen, die mich auf meinem Abenteuer begleitet hat: Prinzessin Elisabietha von Iskandar.“
„Was?“, schrie er. „Du bringst eine Feindin in meine Burg?“ Sein Gesicht verfinsterte sich. Schon wollte die Hand zum Schwert greifen, als der Prinz sich schützend vor sie stellte.
„Vater, ich habe ihr versprochen, dass ihr nichts geschehen wird. Sie ist freiwillig mit mir gekommen. Und sie kann gehen, wann sie will.“
Im Gesicht des Königs arbeitete es. Er presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen.
„Sieh sie dir an, Vater“, sagte Tarrabas, und ging einen Schritt zur Seite. „Sieh ihr in die Augen. Kannst du in ihrem Gesicht etwas Boshaftes erkennen?“
Königin Aleksandra trat neben ihren Mann. Ihr Haar hatte sie zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt, und sie trug ein reich besticktes Kleid aus heller Seide. „Es ist wahr, was er sagt. Sie ist die Tochter, die ich mir immer gewünscht habe. Und ich kann nicht Böses an ihr erkennen. Sie ist ein liebreizendes Geschöpf.“
„Vater“, sagte Tarrabas. „Ich habe über Dinge zu berichten, die von äußerster Wichtigkeit sind. Bitte hör mir zu.“
Auf einen Wink des Königs hin, der nach wie vor die Prinzessin finster anstarrte, begann der Prinz zu sprechen, und berichtete von seinem ersten Zusammentreffen mit der Prinzessin, der Prophezeiung, seinem Flug ins Nebelgebirge, vom Drachenkönig, seinem Bündnis mit Zarn, dem Rückflug, und dem geheimnisvollen Buch.
Der Zorn des Königs verrauchte allmählich im Laufe dieses Berichtes.
Elisabietha reichte dem Prinzen das Buch, der es seinem Vater zeigte.
„Was mögen diese Worte wohl bedeuten, Vater? Und warum wurde dieses Werk so sorgfältig versteckt?“
„Ruft nach Giorgio“, wies der König einen Diener an.
Der Gelehrte, der nach einiger Zeit in den Saal geeilt kam, war wohl so alt wie Gaius. Er trug schwarze Hosen und eine dunkelrote Weste. Sein dunkles Haar zeigte schon die ersten Spuren von grau. Wache Augen glitten über die Anwesenden, und verweilten für einen Augenblick auf der Prinzessin.
„Bitte verzeiht, Majestät“, begann der Mann atemlos. „Aber die Kunde von diesen beiden Kreaturen… Ich war dabei, mit einigen Wachleuten zu sprechen, die sie mit eigenen Augen gesehen hatten, als…“
„Girogio“, unterbrach ihn der König ungeduldig, und wies auf das Buch, das aufgeschlagen auf einem Tisch lag. „Könnt Ihr diese Schrift lesen, oder übersetzen.“
Der Gelehrte überflog die Zeilen, blätterte mehrmals um, und erstarrte. „381! Bei den Seelen aller meiner Vorfahren. 381. Alleine die Tatsache, dass es von hohem Alter ist, macht es zu einem bedeutenden Fund.“
„Ihr könnt es also übersetzen. Dann lest es vor.“
„Das ist mir leider nicht möglich, Majestät. Ich kann diese Ziffern erkennen, welche eine Jahreszahl bilden, aber die Schrift an sich ist mir unbekannt. Ich könnte jedoch in meinen Büchern nachsehen, ob… Eigentlich müsste es möglich sein, wenn…“ Auf seiner Stirn bildete sich eine steile Falte.
„Dann tut das. Ihr dürft gehen.“
Der Mann schlug das Buch zu, nahm es wie einen kostbaren Schatz auf, verbeugte sich und eilte davon.
Die Königin tat einen Schritt auf Elisabietha zu. „Prinzessin, Ihr seid sicher erschöpft von der langen Reise. Möchtet Ihr ruhen, oder vielleicht ein Bad nehmen? Meine Zofen werden sich um Euch kümmern.“
Elisabietha lächelte die Frau an. „Für ein Bad wäre ich Euch sehr dankbar.“

Die Prinzessin genoss die wohlige Wärme des Wassers, dem man duftende Kräuter beigemengt hatte. Zwei Zofen umsorgten sie, reinigten ihre Kleidung, und legten frische Garderobe bereit. Man hatte ihr ein Gemach zugewiesen, das ganz in der Nähe des Zimmers des Prinzen lag, und sie freute sich darauf, in einem bequemen Bett schlafen zu können.
Elisabietha fand es zutiefst beruhigend, dass es auch hier im Feindesland Freundlichkeit gab. Das fürsorgliche Verhalten der Königin war nicht gespielt. Es kam von ihr selbst, aus ihrem Herzen. Der König hingegen erinnerte sie an ihren eigenen Vater. Er liebte seinen Tochter und seine Frau. Aber sobald die Rede auf das verfeindete Königreich kam, wurden seine Gesichtszüge hart und unerbittlich.
Warum nur konnten diese Menschen nicht ihre Streitigkeiten beenden, und in Frieden miteinander leben?

Am nächsten Morgen rief der König nach seinem Gelehrten. Der Mann erschien wenige Augenblicke später mit dem Buch in seinen Händen.
„Nun, Giorgio. Was steht dort geschrieben?“
Die Augen des Gelehrten waren gerötet, und sein Gesicht blass. „Majestät, ich habe alle Bücher über fremde Sprachen und Schriften zu Rate gezogen, die ich finden konnte - jedoch ohne Erfolg. Es scheint, dass eine Art von Verschlüsselung vorliegt, die ich nicht verstehe.“
„Dann könnt Ihr also nicht sagen, was dort geschrieben steht?“
„Ich konnte das fremde Alphabet - wohlgemerkt das älteste, das mir je zu Gesicht gekommen ist - in unsere Schriftzeichen umsetzen, und ich konnte auch einen Teil übersetzen. Aber es ergibt einfach keinen Sinn.“
Elisabietha sah dem Mann die Enttäuschung über sein Misslingen an, und empfand Mitleid für ihn.
„Nehmt dennoch meinen Dank, Giorgio. Ihr habt mir schon viele wertvolle Dienste erwiesen. Und wenn Ihr sagt, Ihr habt alles versucht, dann glaube ich Euch.“
Die Prinzessin nahm den Wandel im Verhalten des Königs mit Erstaunen wahr. Er war nicht mehr der tyrannische Heerführer des Vortages, sondern er verhielt sich wie ein gebildeter, weiser Herrscher, den Jahrzehnte des Regierens geformt hatten.
Tarrabas nahm von dem Gelehrten das Buch entgegen, der sich nun verbeugte, und zum Gehen anschickte.
„Majestät, darf ich sprechen?“, fragte die Prinzessin.
Der finstere Blick, den der König der jungen Frau zuwarf, verhieß nichts Gutes. Aber die Differenzen, die ein ganzes Leben lang bestanden hatten, ließen sich nicht über Nacht beseitigen.
„Unser Gelehrter Gaius verfügt über eine umfangreiche Bibliothek. Womöglich könnte er mit Eurem Gelehrten Giorgio zusammen das Rätsel der alten Schrift lösen.“
„Ihr wollt also eine weitere feindliche Person in meine Burg bringen?“
Daran hatte sie nicht gedacht, und es erschreckte sie, dass ihr guter Wille so missverstanden wurde.
„Und wenn Euer Gelehrter mit mir geht...?“, schlug sie vor.
„Ich soll Euch begleiten?“, entfuhr es Giorgio. „Womöglich auf der fliegenden Kreatur?“
„Gaius pflegt immer zu sagen: Wenn es um eine wissenschaftliche Erkenntnis geht, ist es dann nicht unbedeutend, wie sie an mich herangetragen wird?“
Den Gelehrten schien diese Aussage zu beeindrucken. Deswegen sprach Elisabietha weiter: „Gaius ist ein Mann der Wissenschaft, genauso wie Ihr. Er hat studiert. Er hat mich unterrichtet, und ich kenne keinen anderen Mann, der über mehr Wissen verfügt, als er.“ Sie wandte sich dem König zu: „Majestät, ich verbürge mich für die Sicherheit Eures Gelehrten.“
„Nun, was sagt Ihr, Giorgio?“, meinte er.
„Der Gedanke, mich auf einen Drachen zu setzen, erfüllt mich mit Unbehagen.“
„Sollte er nicht Euer wissenschaftliches Interesse wecken?“, widersprach Elisabietha. „Ihr könnt dieses Wesen nicht nur aus nächster Nähe betrachten. Ihr könnt es sogar in seiner natürlichen Umgebung studieren.“
Ein Leuchten erschien in den Augen des Gelehrten, das der Prinzessin zeigte, dass sie gewonnen hatte.

Der Zeitpunkt des Abschieds war gekommen. Elisabietha stand mit dem Gelehrten, in Begleitung von Tarrabas und einem Dutzend Soldaten auf der Wiese - dort wo sie am Vortag angekommen waren.
Einerseits war die Prinzessin froh, dass sie jetzt wieder nach Hause kam. Andererseits tat es ihr weh, nun von Tarrabas getrennt zu werden.
Der Prinz sah ihr tief in die Augen, und sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug. „Wenn ich die Wahl hätte, Elisabietha, so würde ich keinen Augenblick lang zögern.“
„Das würde ich auch nicht.“
„Ich verspreche dir, ich werde Eleonara nicht zur Frau nehmen.“
„Und auch ich werde mich weigern, den für mich vorgesehenen Mann zu heiraten.“
Wie gerne wäre sie nun in den starken Armen des Prinzen gelegen, aber hier vor all den Leuten hätte es eine Verletzung der Hofetikette bedeutet, und sie wagte sich nicht vorzustellen, wie der Vater des Prinzen darauf reagiert hätte.
Überraschte Ausrufe der Soldaten ließen sie ihren Blick von den dunklen Augen des Prinzen lösen. Unari schwebte heran, und ging in einer eleganten Bewegung auf der Wiese nieder.
„In Gedanken bin ich bei dir, Tarrabas.“ Mit diesen Worten wandte sie sich ab, und ging auf die Drachin zu.

König Erkul reagierte nicht minder ungehalten auf die Anwesenheit des Gelehrten, als Pelias auf die Prinzessin.
Es gelang Elisabietha jedoch, ihren Vater von der Bedeutung ihrer Reise und es ungewöhnlichen Fundes zu überzeugen, und er willigte ein, dass Giorgio zusammen mit Gaius versuchen sollte, die antike Schrift zu übersetzen.
Sie selbst geleitete den fremden Gelehrten zu Gaius’ Raum, und stellte ihn vor.
Gaius deutete eine leichte Verbeugung an. „Es ehrt mich, einen Kollegen der Wissenschaften in meinem Raum empfangen zu dürfen.“
„Die Ehre ist auf meiner Seite“, erwiderte Giorgio, und machte eine Geste, die den ganzen Raum umschloss. „Wie ich sehe, verfügt Ihr über eine umfangreiche Bibliothek.“
„Ich gebe zu, dass ich nicht minder stolz darauf bin.“
„Ihr habt allen Grund dazu.“
Die Prinzessin atmete erleichtert auf. Zwischen Männern der Wissenschaften schien es nicht die starrsinnigen Differenzen wie zwischen Monarchen zu geben.
Gerade reichte Giorgio Gaius das Buch, und berichtete von dessen Ursprung und seinen Bemühungen, die Schrift zu deuten.
Elisabietha ließ die beiden Gelehrten alleine. Als sie auf den Gang hinaustrat bemerkte sie Wachen, die neben der Türe postiert waren.
Sie seufzte. Ihr Vater war eben ein vorsichtiger Mann.

Am nächsten Abend betrat Gaius den Thronsaal in Begleitung des Gelehrten aus Agostina. Sein grauer Haarschopf war noch mehr in Unordnung geraten, als üblich.
„Majestät“, berichtete er mit einem Gesichtsausdruck, der seine Aufregung widerspiegelte. „Es ist uns gelungen, das Schriftstück zu übersetzen. Mein Kollege aus Agostina hat wertvolle Vorarbeit geleistet.“
„Ich danke Euch, Gaius und auch Giorgio. Dann lasst uns hören, was in diesem Werk geschrieben steht.
Gaius entrollte ein Pergament, auf dem Elisabietha seine Handschrift erkannte.
Ein Krächzen kam aus der Kehle des alten Mannes. Er senkte das Schriftstück, und räusperte sich. „Verzeiht mir, Majestät, aber was wir entdeckt haben, ist zutiefst bewegend.“
Gaius hob das Pergament erneut und er begann: „Ich spüre, wie mich die Lebensgeister verlassen. Die Erinnerungen verblassen. Bevor ich mich zum letzten Mal niederlege, will ich meine Erlebnisse um den Untergang Arcteras in dieses Buch niederschreiben. Ich tue dies in der Hoffnung, dass es eines Tages gefunden wird, und dass die Menschen, die meine Worte lesen, daraus lernen, auf dass sich nie wieder ein Unglück von solcher Tragweite ereignen möge.
Alles begann damit, dass die Kräfte unseren alten König verließen, und er seine drei Söhne Federico, Agostino, und Iskander an sein Sterbebett rief. Sein ältester Sohn Federico sollte fortan die Geschicke seines Reiches lenken. Im Beisein der Minister übergab der König seinem Sohn den Siegelring und schloss für immer die Augen. Federico war ein weiser Mann, sein Vater hatte ihn wohl erzogen, und er lenkte das Reich wie der verstorbene König selbst. Doch eines Tages verbreitete sich eine schreckliche Nachricht im Schloss. Der junge König war tot. Die Diener hatten seinen reglosen Körper am Morgen in seinem Bett gefunden. Der Arzt bemerkte eine Phiole mit einer unbekannten Flüssigkeit neben der königlichen Schlafstätte. Gelehrte und Alchemisten untersuchten sie. Aber sie kamen zu keinem gemeinsamen Ergebnis. Einige behaupteten, es wäre Gift, die anderen sagten, es wäre nur ein harmloses Schlafmittel. Und schon ging das Gerücht um, der neue König sei ermordet worden. Böse Zungen behaupteten, Prinz Iskandar, der zweitälteste Sohn, habe den Mord begangen, um selbst auf den Thron zu gelangen. Er selbst stritt es ab, auch gegenüber seinem Bruder. Aber Agostino glaubte ihm nicht, und erkannte ihm den Thron ab. Der Streit eskalierte, die beiden Söhne duellierten sich, aber es gab keinen eindeutigen Sieger. Schwer verwundet zog sich der Jüngere zurück, und sein Bruder wies ihn wenige Tage später aus dem Schloss. Dessen Anhänger folgten ihm und bald gab es zwei rivalisierende Gruppen: Agostino, der nun selbst auf den Thron wollte, und Iskandar, der nicht zu weichen gedachte. Blutige Unruhen entstanden, die sich immer weiter ausbreiteten. Agostino legte Feuer, und es kam zum Krieg, in dessen Verlauf das Schloss und die ganze Stadt zerstört wurden. Viele unschuldige Menschen fanden den Tod.
Die Überlebenden bildeten zwei rivalisierende Gruppen. Eine zog nach Westen, die andere nach Osten.
Es erfüllt mein Herz mit tiefer Trauer, wenn ich an diese kriegerischen Tage denke. Ich kannte Arctera als stolze Stadt. Über viele Generationen hinweg hatten die besten Baumeister und Künstler sie aufgebaut. Noch immer sehe ich die mächtige Stadt in Flammen, und höre die Schreie der Verwundeten und Sterbenden.
Niemals wieder wird sich das Sonnenlicht in den kupfernen Dächern spiegeln, werden Fahnen und Wimpel im Wind wehen, und lachende Kinder durch die Strassen laufen.
Die Drachen wussten nun nicht mehr, wem sie Glauben schenken durften, wollten keiner der beiden Gruppen einen Vorteil verschaffen, und mieden die Menschen fortan. Sie zogen sich aus den Sümpfen zurück, weit in das Nebelgebirge hinauf. Mir erlaubten sie als einzigem Menschen mit ihnen zu gehen - dem letzten Drachenreiter, der noch lebte. Ich betrachte es als außerordentliche Ehre, und werde nicht mehr zu den Menschen zurückkehren.
Unbekannter, der du jemals diese Zeilen liest: Neid und Missgunst, Gerüchte und böse Zungen haben ein ganzes Königreich zerstört, und das uralte Bündnis zwischen Drachen und Menschen gebrochen.
Mögen einst Zeiten kommen, in denen die Menschen wieder in Frieden leben, und sich erneut mit den Drachen verbinden.
Ritter Kolesnikov von Arctera - Drachenreiter.
Im Jahre 381.“
Elisabietha hatte den Gelehrten noch niemals weinen sehen, aber nun liefen Tränen über die Wangen des alten Mannes.
Lange Zeit sprach niemand im Saal. Die Erschütterung über das Gehörte stand auf den Gesichtern der Menschen geschrieben.
„Seid Ihr sicher, dass die Übersetzung korrekt ist?“, fragte König Erkul, wobei er die beiden Gelehrten abwechselnd ansah.
„Majestät“, antwortete Giorgio. „Wir haben die Worte wiederholt mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln überprüft.“
Auf einen Wink hin reichten Diener den beiden Männern Becher mit Wein.
Erkul erhob sich von seinem Thron, und ging mit auf dem Rücken gefalteten Händen auf und ab.
„Wie sagtet Ihr waren die Namen der verfeindeten Brüder?“
„Iskander und Agostino.“
„Agostino“, überlegte der König laut. „Agostina. Der Name hat sich wohl im Lauf der Zeit verändert. Und sie bildeten einst ein Reich. Arctera.“
„Die Ruinenstadt“, sagte die Prinzessin. „Im Buch sind Zeichnungen der alten Stadt.“
Der jungen Frau schwindelte. Immer wieder hatte eine innere Stimme sie zu den Ruinenfeldern hinauf getrieben. Dort hatte sie die Drachin getroffen. Sie hatte von der Prophezeiung gehört, und den Prinzen kennen gelernt. Der letzte Drachenreiter hatte Burg und Stadt gezeichnet. Der Turm, den sie so oft betrachtet hatte. Tarrabas wollte sie zur Frau nehmen. Sollten sie womöglich... Das konnte doch alles kein Zufall sein.
Ihr wurde schwarz vor Augen, und plötzlich bemerkte sie, wie sie gestützt wurde. Über sich sah sie das besorgte Gesicht ihres Vaters.
Elisabietha registrierte mit Erstaunen, dass sie auf dem Boden lag, und man ihr einen Becher mit Wasser an die Lippen setzte.
„Trink“, sagte ihr Vater.
„Was ist...?“, fragte die junge Frau.
„Du warst ohnmächtig.“
„Es geht schon wieder“, sagte Elisabietha und stand auf. Stützende Hände halfen ihr.
„Majestät“, sagte Gaius voller Sorge. „Möchtet Ihr, dass ich Euch untersuche?“
„Es ist alles in Ordnung“, sagte sie, und lächelte den alten Man an. „Es muss wohl die aufregende Geschichte gewesen sein.“
„In der Tat“, bestätigte ihr Vater. „Nicht jeden Tag erfährt man die Gründe für jahrhundertelange Auseinandersetzungen.“
Elisabietha hörte noch, wie ihr Vater nach seinen Beratern rief, und Gaius’ Stimme, welche die Übersetzung wiederholte, dann schlich sie aus dem Raum, und zog sich in ihre Gemächer zurück. Sie wollte mit sich, und ihren Gedanken allein sein.
Tausend Jahre, dachte Elisabietha. Und in so langer Zeit hatten die Menschen nichts dazugelernt. Aus Neid hatten sich die beiden Brüder bekämpft, und ein ganzes Reich war an der Auseinandersetzung zerbrochen. Was würde ihr Vater nun tun? Würde er mit Pelias Frieden schließen? Bestimmt war er viel zu dickköpfig dafür. Sie hatte gesehen, wie Pelias auf ihren Anblick reagiert hatte - genau wie ihr Vater bei der Ankunft des fremden Gelehrten. Und wenn sich nun die beiden Könige gegenüberstehen würden? Was würde dann geschehen?

Am nächsten Morgen trat der Gelehrte Giorgio die Rückreise an. In seinem Gepäck führte er eine Abschrift der Übersetzung mit sich.
Elisabietha bot ihm an, ihn zurückzufliegen, aber er wehrte ab. „Auch wenn es ein beeindruckendes Erlebnis war, so würde ich dennoch eine Reise zu Pferde bevorzugen.“
„Überbringt dem Prinzen meine Grüße. Sagt...“ Sie errötete. „Sagt, dass ich an ihn denke.“
„Mögen Eure Wünsche in Erfüllung gehen“, sagte der Gelehrte zum Abschied.
Nachdenklich sah die Prinzessin dem Mann und der Gruppe von Rittern nach, die ihn sicher zur Grenze begleiten sollten.
Der Prinz, die Königin, und nun auch Giorgio. Es waren keine schlechten Menschen.

Pelias holte mit der Hand zum Schlag aus, aber sein Sohn wich ihm geschickt aus, was den König nur noch wütender machte.
„Du wirst tun, was ich von dir verlange. Ich dulde keinen Widerspruch.“
„Ich habe Fechten gelernt, weil du es wolltest. Ich habe Tanzen gelernt, weil du sagtest, dass es sich für einen Prinz gehört. Ich habe Strategie und Kriegskunst gelernt, wie du es angeordnet hast. Es ging immer alles nach deinem Willen. Aber jetzt - ein einziges Mal - will ich etwas haben. Ich will Elisabietha heiraten. Ich...“
„Kommt nicht in Frage“, unterbrach ihn der König. „Und wenn ich dich eigenhändig bis zum Altar prügle. Du wirst Eleonora ehelichen.“
„Nein, das werde ich nicht.“
„Wachen!“, schrie Pelias. Das Gesicht des Königs war puterrot. „Sperrt ihn ins höchste Turmzimmer. Und stellt Wachen vor der Tür auf.“ Drohend hob er einen Finger. „Dir werde ich zeigen, wer hier das Sagen hat. Du wirst so lange dort oben bleiben, bis geheiratet wird. Basta.“

Elisabietha hatte versucht ihren Vater umzustimmen. Sie hatte die Prophezeiung zitiert, die Worte des Drachenkönigs wiederholt, hatte gefleht und geheult, aber das Herz ihres Vaters hat sich nicht erweichen lassen.
Nun saß sie schmollend in ihrem Zimmer. Draußen auf dem Gang standen zwei Wachen, die den Befehl hatten, sie rund um die Uhr zu bewachen.
Plötzlich kam ihr eine Idee. Ihr Gesicht hellte sich auf, und sie rief mit ihrer Gedankenstimme nach Unari.

Die Nacht war schon weit fortgeschritten, aber trotz der späten Stunde konnte der Prinz keine Ruhe finden. Unruhig lief er in dem Turmzimmer auf und ab. Seine Gedanken kreisten um die bevorstehende Vermählung, kehrten aber immer wieder zu der Frau zurück, mit der er sein restliches Leben verbringen wollte - Prinzessin Elisabietha.
Er sollte das Erbe seines Vaters antreten, die kindhafte Eleonara heiraten, und - wie all seine Ahnen - Krieg gegen den verhassten König Erkul führen.
Ernsthafte Zweifel überkamen den jungen Mann. Wenn ein Mensch von Grund auf böse, kriegerisch, mordlustig, und was sonst noch war, wie konnte er ein so liebreizendes, friedliebendes Geschöpf wie die Prinzessin heranziehen? Was, wenn sein eigener Vater die treibende Kraft in den immerwährenden kriegerischen Handlungen war?
„Prinz Tarrabas!“
Eine Stimme in seinen Gedanken, hatte ihn in seinem Dauerlauf innehalten lassen.
„Prinz Tarrabas! Hört Ihr mich?“
„Zarn!“
„Ja, mein Prinz. Ich bin ganz in der Nähe Eurer Burg. Wo seid Ihr?“
„Was habt Ihr vor?“
„Später. Zuerst werde ich Euch dort herausholen. Wo seid Ihr?“
„Im höchsten Turm.“
„Der mit dem spitz zulaufenden Dach, und den beiden Fahnen?“
„Ja.“
„Gibt es dort ein Fenster.“
„Ja. Aber es ist vergittert.“
„Das ist nicht wichtig. Tretet ans Fenster heran.“

Tarrabas eilte vor das massive Gitter, und schaute hinaus. Aber so sehr er seine Augen auch anstrengte. Er konnte in der mondlosen Nacht nur undeutlich die Umrisse der obersten Zinnen gegen den Himmel ausmachen.
„Ich sehe Euch. Tretet nun zurück. Ich werde gleich da sein.“
Tarrabas hörte noch das näher kommende Rauschen lederner Schwingen. Dann ging eine Erschütterung durch den ganzen Turm. Ein Becher fiel um, und rollte über den Tisch. Staub rieselte von den uralten Dachbalken. Die Tauben, die auf ihnen nisteten, flogen erschreckt auf. Irgendetwas Gewaltiges schabte und kratzte draußen an den Steinquadern.
Tarrabas richtete den Blick auf das finstere Rechteck des Fensters, und wich noch einen Schritt zurück. Was geschah dort nur?
Armdicke spitz zulaufende Krallen stachen zwischen den Gitterstäben hervor, glitten daran entlang, krallten sich fest und rissen das Gitter mitsamt einigen Steinquadern in die Nacht hinaus. Staub wirbelte auf und lose Bruchstücke fielen durch die Lücke nach außen. Die titanische Pranke des Drachen erschien in der so geschaffenen Öffnung, und legte sich um den Querbalken über der Fensteröffnung. Mehrmals tastete sie nach Halt. Dann zeichneten sich dicke Sehnen unter der Schuppenhaut ab. Krachend barsten massive Deckenbalken, und ein Stück des Dachs verschwand.
Hinter der Tür zum Turmzimmer wurden nun die Stimmen der Wächter laut. Ein Schlüssel knirschte im Schloss, und der Riegel wurde zu Seite geschoben.
Tarrabas achtete nicht darauf, sondern starrte wie gebannt durch das Loch nach oben. Aus der Dunkelheit der Nacht erschien dort der riesige Schädel des Drachen, und füllte die Öffnung, die er geschaffen hatte, beinahe zur Gänze aus.
„Vertraut mir, Prinz. Euch wird nichts geschehen.“
Die massive Türe seines Gefängnisses wurde aufgerissen, und die Wachen stürmten in den Raum. Ihre Blicke wanderten sofort nach oben, zu dem schuppenbewehrten Kopf, und sie blieben stehen, als wären sie gegen ein Hindernis gerannt. Zarn wandte sich den Männern zu, und riss sein Maul auf, wobei er ein Furcht einflössendes Gebiss entblößte. Der Drache holte tief Luft, und brüllte die Männer an, mit einer Stimmgewalt, die das Zwerchfell des Prinzen zum Erschüttern brachte. Dann sah der Prinz noch das Maul des Drachen auf sich zukommen, und spürte den Druck der Zähne, die sich um seinen Oberkörper schlossen. Instinktiv versuchte er sich gegen die Kraft des zuschnappenden Gebisses zu wehren. Er wurde hochgehoben, und mit in die Nacht hinausgezogen. Tarrabas fühlte die feuchtkalte Luft auf seiner Haut. Er sah weit unten die Fackeln der Männer, welche die Wehrgänge entlangliefen, und hörte deren aufgeregte Stimmen. Ein Horn blies immer wieder Alarm. Der riesige Körper des Drachen hing außen am Turm und krallte sich dort fest. In den schwarzen Schuppen bildeten die zahllosen Fackeln unzählige flackernde Muster. Zarn entfaltete seine Flügel und schwang sich in die Luft. Der Turm mit dem aufgerissenen Dach fiel nach unten, er sah noch die erschreckten Gesichter der Männer, die im nachblickten. Dann fiel das Bauwerk zurück. Die hohen Mauern, und dann die ganze Burg wurden erkennbar und verschwanden in der Dunkelheit.
Nun bemerkte der Prinz, dass er sich mit beiden Händen an den Zähnen des Drachen festhielt. Die Lage war mehr als unbequem. Fast zur Gänze steckte er im Maul des Drachen. Nur Kopf und Beine ragten hervor. Einige der spitzen Beißwerkzeuge drückten ihm unangenehm in die Seite. Der Wind peitschte sein Haar.
Zarn flog über einen Wald hinweg, überquerte eine Wiese und ging dann auf einem flachen Hügel nieder, wo er seine kostbare Fracht vorsichtig im Gras ablegte.
Tarrabas setzte sich schwer atmend auf. Dann erhob er sich und sah seinen Retter an.
„Ich danke Euch, Zarn.“
„Geht es Euch gut?“

Der Prinz tastete nach der linken Seite. „Ja, es geht mir gut.“
„Ihr habt Schmerzen.“
„Ein bisschen.“
„Ich wusste nicht, dass die Körper der Menschen so weich sind.“
„Das ist jetzt nicht wichtig.“
„Steigt auf. Es geht weiter.“
„Wie habt Ihr mich gefunden?“
„Unari hat es von Eurem Diener erfahren. Sie traf ihn im Wald. Er war auf der Jagd.“

Sein treuer Diener Max. Es tat ihm ein bisschen weh, den Mann dort zurückzulassen. Seit frühester Kindheit kannte er ihn. Er war ihm mehr als ein Diener geworden - ein Freund fürs Leben. Warum wurde ihm das erst jetzt klar?
Tarrabas trat an Zarn heran, und legte eine Hand an seinen riesigen Schädel. Das Licht der Sterne spiegelte sich in den Augen des Drachen.
„Zarn?“
„Ja.“
„Willst du mein Bruder sein? Mein Bruder im Geiste?“
„Es ist Euch sehr ernst damit.“
„Ja, das ist es. Es ist die größte Ehre, die ein Mann von königlichem Blut einem anderen erweisen kann.“
„Dann will ich gerne Euer Bruder sein.“
„Dann sei es so - bis in den Tod.“
„Bis in den Tod, Prinz.“

Tarrabas glaubte, über die Gedankenstimme den Stolz seines mächtigen Freundes zu verspüren.
„Brüder reden sich mit dem Vornamen an.“
„Danke, Tarrabas.“

Der Prinz stieg auf den Rücken des Drachen und setzte sich nieder. Noch einmal warf er einen Blick zurück. In der Ferne sah er undeutlich die Burg seines Vaters.
Dort war er geboren, aufgewachsen, und zum Mann gereift, hatte Reiten und den Schwertkampf gelernt.
Niemals wieder wollte er dorthin zurückkehren.

Es dämmerte schon, als sie von der Anhöhe abflogen. Tarrabas fragte nicht nach dem Ziel der Reise. Es war ihm egal. Er wollte nur weg von seinem Vater. Um seine Mutter tat es ihm Leid. Sie hatte all dies nicht verdient. Aber womöglich gab es einen Weg, wieder friedlich zusammenzukommen.
Nun erkannte der Prinz das Ziel der Reise: Die Ruinenstadt mit dem eigenartig geformten Turm.
In den ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages sah er dort unten einen anderen Drachen, dessen Schuppen golden schimmerten. Und daneben stand eine winzige Gestalt mit langem Haar.
„Elisabietha!“ Das Herz des Prinzen machte einen Sprung.

Am späten Nachmittag erreichten sie das Nebelgebirge. Prinz und Prinzessin wurden vor den König gerufen, und berichteten, was sich bei den Menschen zugetragen hatte.
Eine eigenartige Stimmung überkam die Prinzessin, während Tarrabas mit dem weißen Drachen sprach. Obwohl sie den Prinzen erst seit ein paar Wochen kannte, und nur wenige Tage mit ihm verbracht hatte, spürte sie eine gegenseitige Vertrautheit, als wären sie sich schon seit frühester Kindheit befreundet. Sie fühlte sich in seiner Nähe sicher und geborgen.
Und auch die Drachen erschienen ihr wie eine große Familie, der sie beide angehörten.
„Womöglich haben wir die Prophezeiung falsch gedeutet“, sagte der Drachenkönig soeben. „Vielleicht ist ein anderer Sinn in den Worten zu suchen. Was, wenn der Krieg der Menschen erst dann endet, wenn sie sich alle ausgelöscht haben? Sollen die Worte so ausgelegt werden, dass ihr beide den Stamm eines neuen Menschengeschlechts bildet?“
„Hier, in diesen kalten Höhlen?“, fragte der Prinz. „Auf Dauer könnten wir hier nicht überleben - nicht nur wegen der Kälte. Wir haben hier keine Möglichkeit Getreide, Gemüse oder Obst anzubauen. Die Menschen leben auch von der Viehzucht. Und wie sollen zwei von uns das Erbe einer ganzen Zivilisation antreten?“
„Womöglich muss die alte Menschheit untergehen, und aus deren Asche eine neue entstehen.“
„Nicht alle sind schlecht“, warf Elisabietha ein. „Es gibt auch viel Liebe unter ihnen.“ Sie trat näher an Tarrabas heran, und nahm seine Hand in ihre. „Es darf nicht geschehen, dass all diese guten Menschen wegen ein paar schlechter sterben.“
„Ich gebe Euch Recht, Prinzessin. Aber wie sollen wir Gute und Böse unterscheiden? Wie sollten wir eingreifen? Bis jetzt hat sich unser Volk aus den Auseinadersetzungen der Menschen herausgehalten.“ Der Drachenkönig seufzte tief. „Und die Kälte. Auch uns schadet sie. Fehlende Wärme und die dünne Luft schwächt unsere Jungen. In diesem Jahr hat nur ein einziges überlebt. Und auch das ist schwach und kränklich.“
„Ich habe ein paar Früchte der Mandelbäume gesammelt“, sagte die Prinzessin. „Vielleicht helfen sie dem Jungen. Darf ich es versuchen?“

In einer der am höchsten gelegenen Höhlungen hatte die Drachenmutter ihr Gelege gebaut. Das Junge, das beinahe so groß wie die Prinzessin war, lag neben ihr in einem Nest, in dem wohl eine Handvoll Menschen hätten schlafen können. Die Schuppenhaut des Kleinen war von hellgrüner Farbe, der aber der sonst übliche Glanz vollends fehlte. Die erst im Ansatz erkennbaren Flügel zitterten kaum merkbar. Das Junge hatte sich im Nest ausgestreckt und die Augen geschlossen.
Elisabietha strich liebevoll über den Kopf des Drachenkindes, das daraufhin mühevoll die Lider bis etwa zur Augenmitte hob. Teilnahmslos blickte es die Prinzessin kurz an, dann schloss es die Augen wieder. Die junge Frau holte eine der Mandelfrüchte aus ihrer Tasche und hielt sie dem Jungen hin, aber es zeigte keine Reaktion.
„Es ist eiskalt“, sagte sie.
„Warum wärmt ihre Mutter es nicht?“, fragte Tarrabas.
„Sie sind anders als wir. Ihre Körper geben keine Wärme ab.“
Wie konnte sie dem Kleinen nur helfen? Ein Feuer wäre eine Lösung gewesen, aber die Drachen duldeten keine Flammen in ihrer Nähe.
Aber sie selbst konnte das Junge wärmen.
„Tarrabas, bitte bring mir all unsere Decken.“
„Was hast du vor?“
Sie erklärte es ihm.
Elisabietha breitete eine Decke neben den Drachenkind auf dem Boden des Nestes aus, legte sich darauf, schlang die Arme um das Kleine, und bat Tarrabas ein dickes Wolltuch über sie beide zu legen.
Geduldig beobachtete die Prinzessin den Drachennachwuchs. Der Atem ging nach wie vor flach, aber zumindest gleichmäßig. Reglos lag das Geschöpf da.
Aber es wollte ihr nicht gelingen, das Kleine zu wärmen – im Gegenteil, ihr wurde selbst immer kälter, und sie begann zu zittern.
Tarrabas bemerkte den Zustand der Prinzessin. „Es scheint, dass du das Kleine nicht erwärmst, sondern dass es dich auskühlt.“
Elisabietha nickte schwach. „Aber was können wir sonst tun?“
„Ich werde mich zu dir legen.“
Die Prinzessin riss die Augen auf, und wollte schon zu einem Protest ansetzen.
„Oder weißt du eine andere Möglichkeit? Willst du mit einem Drachenjungen in den Armen erfrieren?“
Tarrabas legte sich neben die Prinzessin, und breitete alle Decken sowie die Mäntel über ihnen und dem Drachenjungen aus.

König Erkul entrollte das Schriftstück, das ein Bote ihm überbracht hatte, überflog die Zeilen und schüttelte den Kopf.
„Majestät, eine schlechte Nachricht?“, fragte sein Berater.
„Sie ist von Pelias. Er behauptet, Elisabietha hätte in meinem Auftrag einen Drachen geschickt, der seinen Sohn aufgefressen hat. Was für ein Unsinn.“
„Ungewöhnliche Dinge haben sich in den letzten Wochen ereignet“, gab der königliche Berater zu bedenken.
„Na gut. Ich werde Elisabietha zumindest fragen. Wo ist sie?“
„Sie ist nirgends zu finden. Wir haben die ganze Burg durchsucht.“
„Sie sollte doch in ihr Zimmer eingesperrt werden?“
„Dort fanden wird nur ihre Zofe - in den Kleidern der Prinzessin.“
Erkul schlug eine Hand vors Gesicht. „Haben sich denn alle gegen mich verschworen?“
„Majestät, wir sollten die Drohung ernst nehmen, und die Truppen in Stellung gehen lassen.“
„Gut. Ruft nach dem General. Wir ziehen wieder in den Krieg.“

Tarrabas erwachte, als sich die Prinzessin neben ihm bewegte. Im Schlaf hatte sie sich umgedreht, und die Arme um ihn gelegt. Er genoss den entzückenden Anblick und das Gefühl ihres schlanken Körpers an seinem, und wagte nicht sich zu bewegen, um die Schlafende nicht zu wecken.
Es dämmerte bereits. Die Luft war schneidend kalt, und der Atem stand dampfend in der Luft.
Irgendwann seufzte Elisabietha und schlug die Augen auf.
„Guten Morgen, Prinzessin“, sagte Tarrabas mit einem Lächeln.
„Guten...“, setzte Elisabietha an, und erfasste die Situation, in der sie sich befand. Sie wollte die Umarmung lösen, und von ihm wegrutschen, aber er hielt sie mit seinen Armen fest, und ließ nicht los.
„Die ganze Nacht haben wir so gelegen. Warum können wir nicht noch ein paar Augenblicke so bleiben?“, sagte der Prinz.
Soeben kroch der erste Sonnenstrahl über die oberste Höhlenwand, und tauchte das Gelege in goldenes Licht.
„Welcher Tag ist heute?“, fragte Elisabietha.
„Sonnwende.“
„Unser beider Geburtstag.“
Eine der Decken neben der Prinzessin bewegte sich. Der Kopf des Drachenjungen kam zum Vorschein. Es schüttelte die Zudecke ab, und sah die Beiden neugierig an.
„Es lebt!“, sagte die Prinzessin voller Freude.
Das Junge sog prüfend die Luft ein, und steckte den Kopf unter den Mantel der Prinzessin.
„Es scheint etwas zu suchen“, meinte Tarrabas.
„Ich weiß auch was“, erwiderte die Prinzessin.
Elisabietha holte eine Mandelfrucht hervor und hielt sie dem Kleinen hin.
Es berührte die Frucht mit der Schnauze, schnupperte mehrmals daran, und schlang den Leckerbissen hinunter. Eine kleine Zunge fuhr über die Lippen, dann blickte es die Prinzessin an.
„Der Blick soll wohl heißen: Ich will noch mehr“, sagte Tarrabas lachend.
Der Schädel der Drachenmutter erschien über dem Gelege. Sie musterte die Szene, und stieß ihr Junges liebevoll mit dem Kopf an. Das Kleine richtete sich auf und schlug mit den Stummelflügeln.

Bereits von weitem erkannte Tarrabas die beiden Heereslager. Wie schon über die Jahrhunderte hinweg, standen sie sich erneut gegenüber, um in einem sinnlosen Kräftemessen Menschenleben zu vergeuden.
Die Drachen hatten das genesene Junge als ein Zeichen angesehen, und nach einer nicht enden wollenden Diskussion beschlossen, ihre passive Haltung aufzugeben. Ein Beobachter hatte von einer sich neu anbahnenden Auseinandersetzung zwischen Agostina und Iskandar berichtet. Nun waren sie unterwegs, um in das Geschehen einzugreifen.
Der monotone Klang der Kriegstrommeln drang die Ohren des Prinzen. Rufe aus Tausenden von Kehlen kamen sich nun dazu. Die Menschen hatten wohl die Schar der Drachen bemerkt.
Auf dem blutdurchtränkten Boden gingen die Drachen nieder - der König mit seinen beiden Wächtern, die nicht minder beeindruckend als Zarn wirkten, der Freund des Prinzen, Unari, und noch ein paar andere. Sie stellten sich auf die Hinterbeine, breiteten die Flügel aus, und erhoben ihre Stimmen zu einem gemeinsamen Ruf. Nie zuvor hatte der Prinz etwas derart Beeindruckendes gehört.
Dann falteten sie die Schwingen wieder zusammen, und ließen sich auf alle Viere nieder.
Drei Parteien standen sich nun gegenüber. Tarrabas glitt vom Körper Zarns, und trat vor den weißen Drachen hin. Fragend blickte er ihn an.
Der Prinz ergriff die zierliche Hand der Prinzessin, und sie liefen vor dem weißen Drachen her, in die Mitte der freien Fläche zwischen den beiden Armeen hinein.
Feindliche aber auch neugierige Blicke ruhten auf ihnen.
„Jetzt ruft Eure Eltern herbei“, sagte der Drachenkönig.
Die Prinzessin wandte sich der waffenstarrenden Phalanx aus Kriegern Iskandars zu, und rief. „Vater, ich bitte dich. Wir müssen miteinander reden. Um das Leben all dieser Menschen willen.“
Bewegung entstand dort. Einige der Krieger wichen zur Seite aus und neigten die Häupter. Ihr Vater verließ die schützende Menge der Soldaten und kam in Begleitung einiger Ritter auf sie zu.
„Du kommst sofort mit mir!“, sagte er, und wollte nach ihrem Arm greifen, aber sie wich sofort zurück.
„Nein!“, schrie sie voller Verzweiflung. „Diesmal nicht. Zuerst wird geredet. Und dann wir es eine Entscheidung geben.“
„Ich treffe hier die Entscheidungen.“
„Aber vorher solltest du hören, was der Drachenkönig zu sagen hat.“
Elisabietha eilte über das weite Feld auf den weißen Drachen zu, wo sie auf Tarrabas stieß. Fragend blickte sie ihn an, und er lächelte kurz. „Mein Vater ist bereit, zu sprechen. Er dachte allen Ernstes, Zarn hätte mich gefressen.“
Die Königskinder nahmen sich bei den Händen, traten vor den weißen Drachen hin, der sie kurz ansah. Der Drachenkönig ließ sich auf den Boden nieder, und legte die Pranken mit den scharfen Krallen vor sich hin. Dort, im Schutz dieses mächtigen Wesens, dessen massiger Körper wie ein Felsen hinter ihnen aufragte, verweilten sie, um auf die Ankunft ihrer Väter zu warten.
Von der linken Flanke her näherte sich nun Pelias mit seinem Gefolge, von rechts kam Erkul. Je näher sich die beiden Parteien kamen, umso mehr Speere, Schwerter, und Hellebarden wurden aufeinander gerichtet.
„Senkt Eure Waffen“, sagte der Drachenkönig. „Wir sind hier, um zu sprechen, nicht um zu kämpfen.“
Keine der Parteien kam der Aufforderung nach. Feindselige Blicke wurden ausgetauscht, Fäuste geschwungen, und Beschimpfungen ausgesprochen.
„Tut, was Ihre Majestät sagt“, rief Tarrabas.
„Ja, legt Eure Waffen beiseite“, sagte die Prinzessin.
König Erkul steckte als erster sein Schwert weg. Zögernd folgte das Oberhaupt Agostinas seinem Beispiel. Auf einige gezischte Befehle hin sanken die Spitzen der Waffen allmählich nach unten.
„Können wir nun reden?“, fragte der weiße Drache in die lastende Stille hinein.
„Worüber sollten wir reden?“, wollte Pelias wissen.
„Über die Zukunft Eurer Reiche“, erwiderte der weiße Drache. „Und über das Glück zweier junger Menschen.“

„König Pelias“, flehte Elisabietha. „Denkt an Eure Frau. Königin Aleksandra hat ein gutes Herz. Glaubt Ihr nicht, es würde sie schmerzen, wenn sie mit ansehen müsste, wie ihr Sohn unglücklich wird?“
„Ich habe mein Wort gegeben. Großherzog Barak ist mir treu ergeben. Er hat es verdient, dass seine Tochter Eleonara einen ehrenwerten Mann zum Gemahl bekommt.“
„Aber gibt es nicht noch andere...?“
„Schluss jetzt. Es war mein Wort. Das Wort eines Königs. Und ich werde es halten.“
Nun mischte sich auch der Vater der Prinzessin ein: „Das ist wahr, meine Tochter. Ein König muss sein Wort halten. Es sei denn, er kauft sich von einem Versprechen frei.“
„Majestät Erkul“, fragte der weiße Drache. „Ist der Mann, dem Ihr Euer Versprechen gabt, anwesend?“
„Ja, das ist er.“
„Dann ruft ihn herbei“, erwiderte der Drachenkönig. „Und König Pelias, auch den Großherzog möchte ich sprechen.“
Zwei Boten wurden ausgeschickt, um die Männer zu holen.
Die Prinzessin rechnete schon mit dem Schlimmsten. Sie hatte noch nie so viele starrköpfige Männer auf einmal getroffen. Über eines war sie sich klar: Sie würde nicht mehr zurückgehen. Sollte ihr Vater weiterhin auf der Vermählung bestehen, würde sie mit Unaris Hilfe fliehen. Sie war sich sicher, dass auch der Prinz ihr folgen würde.
Inzwischen waren die beiden Männer angekommen. Ungläubig starrten sie zum Drachenkönig empor, der mit ruhiger Stimme auf sie einredete.
„Freiheit, Frieden und Gesundheit. Dies sind die höchsten Güter - aber sie haben einen hohen Preis. Ihr habt das Erbe des letzten Drachenreiters gelesen - die Botschaft, die eine Mahnung enthielt, auf dass wir verstehen, was sich vor so langer Zeit ereignet hat. Wir sind es nun. Hier und jetzt wird sich entscheiden, ob Eure Kinder und Enkel sich weiterhin bekriegen werden, ob sie hier auf diesen schwarzen Schlachtfeldern sterben werden, oder Frieden herrschen wird. Hier und jetzt. Majestäten, ich appelliere an Euer Wissen, und die Erfahrung, über die nur Könige verfügen, die seit Jahrzehnten an der Spitze eines Reiches stehen. Oft müssen eigene Gefühle, Vorurteile, beiseite gelegt werden, um Entscheidungen zu treffen, die ein höheres Ziel angehen. Ihr entscheidet über das Wohl eines ganzen Königreiches. Krieg folgt auf Krieg. Gewalt bringt nur sich selbst wieder hervor. Es ist ein Kreislauf der niemals endet. Ihr habt nun die Möglichkeit diesen zu unterbrechen. Der Preis dafür ist, dass Ihr Euren Hass überwindet, dass Ihr Eure Krieger nicht mehr gegeneinander kämpfen lasst. Löst Konflikte nicht mit Waffen, sondern mit Worten. Setzt ein Zeichen für eine neue Zukunft. Und gäbe es kein einprägsameres, als die Vermählung zweier Königskinder aus ehemals verfeindeten Reichen?“ Der Drache schwieg, und seine Worte lasteten schwer auf den Anwesenden. „Und so frage ich Euch nun. Seid Ihr bereit den Preis des Friedens zu bezahlen?“
„Ein König wurde getötet“, rief Pelias. „Von dem Vorfahr dieses Mannes.“ Dabei deutete er anklagend auf Erkul.
„Wer sagt das? Genauso gut kann es Euer Urahn gewesen sein.“
Schon legten sich die Hände der beiden Streithähne auf die Griffe ihrer Schwerter.
„Majestäten“, sagte der weiße Drache. „Was geschehen ist, war Unrecht. Aber es wird nicht ungeschehen, wenn Ihr Euch bekämpft. Niemandem ist geholfen, wenn Eure Männer sterben. Lasst die Vergangenheit ruhen, und seht nach vorne – in die Zukunft.“
Erkuls Hand löste sich von seinem Schwertgriff, während sein finsterer Blick auf seinem Feind ruhte.
Elisabietha trat aus dem Schutz des Drachens hervor zu ihrem Vater hin, nahm seine rechte Hand und zog ihn zu König Pelias hin.
„Gib ihm die Hand. Nur ein Handschlag ist erforderlich, und mehr als tausend Jahre Krieg sind vorbei.“
Ihr Vater sah sie mit einer Mischung aus Erstaunen und Stolz an - Erstaunen darüber, dass sie die Initiative ergriff, und Stolz darüber, dass sie vor all diesen Männern den Mut dazu zeigte.
Sein Blick traf den von König Pelias. „Wenn ich Euch meine Tochter verspreche, so ist mein Reich ohne Erbe. Ich kann das nicht tun.“
„Majestäten“, sagte der weiße Drache. „Es ist leicht, immer den gleichen Weg zu beschreiten, auch wenn man längst nicht mehr weiß, wohin er eigentlich führt. Jedoch erfordert es zuweilen großen Mut, eine neue Richtung einzuschlagen.“ Er beugte sich ein Stück weiter zu dem Männern herunter und setzte mit eindringlicher Stimme fort: „Baut die alte Burg wieder auf - oben im Niemandsland. Von dort aus kann die Prinzessin Iskandar regieren, und der Prinz Agostina. So bleibt kein Reich ohne Erbe.“
Pelias sah den Drachen mit maßlosem Erstaunen an. Dann blickte er in König Erkuls Gesicht, presste die Lippen aufeinander, atmete tief durch, hob die rechte Hand, und hielt sie dem Mann hin, den er sein ganzes Leben lang bekämpft hatte. „Darauf, dass zwei junge Menschen glücklich werden, und zwei Reiche in eine neue Zukunft führen.“
Erkul sah erst lange die Hand an, die ihm entgegengestreckt wurde. Ihm war bewusst, dass dies ein Moment war, der in die Geschichte eingehen würde. Pelias hatte den ersten Schritt getan. Nun lag es an ihm, den Krieg zu beenden. Er hob den Kopf, und sah seinem Gegenüber ins Gesicht - ein altes Antlitz, in dem unzählige Schlachten und zahlreiche Verluste ihre Spuren hinterlassen hatten. Mit einem leichten Nicken griff er nach der Hand und schüttelte sie. „Wohlan. Eine große Aufgabe steht vor uns. Wir müssen eine Burg wieder aufbauen, - oder besser noch - eine ganze Stadt.“
Tarrabas trat auf König Erkul zu, und kniete vor ihm nieder: „Majestät, ich bitte Euch um die Hand Eurer Tochter.“
„Elisabietha, komm zu mir“, sagte der Monarch. Er hielt seine Tochter an den Schultern, sah sie lange an, und drückte sie dann an seine Brust. „Mögen die Götter über dich wachen, mein Kind.“ Er nahm sie bei der linken Hand und wandte sich an den knienden Prinzen. „Erhebt Euch, Prinz Tarrabas von Agostina.“ Finster sah er den jungen Mann an, in seinem Gesicht arbeitete es. „Gebt mir Eure rechte Hand.“ Der Prinz tat, wie ihm befohlen. Erkul griff nach dem Handgelenk des Prinzen, hielt es mit eisernem Griff, und legte ihm die rechte Hand seiner Tochter hinein. „Mein Segen über Euch.“ Flüsternd fügte er hinzu. „Und wehe ihr tut Ihr ein Leid an. Ich würde Euch...“ Er ließ die Drohung unausgesprochen, aber sein Blick verhieß nichts Gutes.
Elisabietha fiel in die Arme des Prinzen, wo dann ein nicht enden wollender Strom von Glückstränen über ihre Wangen lief.
Der Drachenkönig legte den Kopf zurück, und stimmte einen Gesang an, in den die anderen Fabelwesen einfielen.
Die beiden Könige schritten gemeinsam aufs Schlachtfeld hinaus und gingen dann auf die Reihen ihrer Krieger zu.
Erkul blickte in die ausgemergelten Gesichter der Krieger. Einige stützten sich schwer auf ihre Waffen. Erwartungsvoll sahen sie ihn an.
„Geht nach Hause zu euren Familien. Der Krieg ist vorbei.“
„Haben wir gesiegt?“, wagte ein Veteran zu fragen.
„In einem Krieg gibt es nur Verlierer.“

Zwei Jahre waren seit jenem denkwürdigen Tag vergangen.
Immer mehr Drachen kamen aus dem Nebelgebirge herab, und bevölkerten die hohen Felskegel der Sümpfe.
König Tarrabas löste den Blick von den majestätischen Wesen, die weit unten über dem Fluss kreisten, und wandte sich der Baustelle zu. Die Ruinenstadt glich einem wimmelnden Ameisenhaufen. Überall wurde gearbeitet, Schutt beiseite geräumt, Mauern wieder aufgerichtet, und uralte Straßenzüge freigelegt. Die Grundmauern der Burg waren wieder zu Tage gekommen, und dort setzten die Steinmetze Reihe um Reihe die Steine aufeinander. So nahm das mächtige Bauwerk langsam wieder an Form an, und ließ allmählich den alten Stolz wieder erkennen.
Soeben landete Unari auf der Wiese unterhalb der Burg. Sie brachte Elisabietha von ihrer Reise aus den Sümpfen zurück. Schon mehr als ein Dutzend Jungtiere waren in diesem Jahr geschlüpft, und die Königin hatte sie mit den für die Drachen so wichtigen Mandelfrüchten versorgt.
Tarrabas atmete auf. Alles schien seinen Weg zu gehen.
Er sah hoch, als ein dunkelblauer Drache über die Baustelle hinwegfegte. In einem waghalsigen Manöver ging er unmittelbar neben der goldenen Drachin nieder. Der König wusste, wer das Bündnis mit diesem stolzen Wesen geschlossen hatte. Ritter Gregorik war der erste, den die Drachen gewählt hatten.
Nach ein paar Minuten kam der Drachenreiter völlig außer Atem bei Tarrabas an, kniete nieder, und hielt ihm am ausgestreckten Arm eine Schriftrolle hin.
Der König nahm das Pergament entgegen, und forderte den Mann auf, sich zu erheben. „Seid mir gegrüßt, Ritter Gregorik. Was habt Ihr zu berichten?“
„Majestät, ich flog Patrouille an der Westgrenze. Dort bemerkte ich eine Gruppe fremder Reiter. Sie blieben auf dem Gebiet Königs Dartanus. Ich landete, sie saßen ab, und verneigten sich in meine Richtung. Einer der Männer legte deutlich sichtbar sein Schwert ab, kam näher, und übergab mir ein Schreiben ihres Königs.“
Tarrabas entrollte das Schriftstück, und überflog die Zeilen. „Er bittet um die Aufnahme von Gesprächen auf diplomatischer Ebene.“

Und warum hat sich diese Geschichte zugetragen?
Weil eine ungehorsame Prinzessin ihren Begleitern ausgebüchst ist. Hätte sie ihrem Vater gehorcht, würde noch immer Krieg zwischen den beiden Reichen herrschen.

Ende.


(C) 2011 Hermann Weigl